Ursprung und Wesen des Glaubens
Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.
Wir haben u. a. über die Beziehung von Glauben zu anderen Themen wie z. B. Kenntnis und Bewusstsein, Rationalität und Denken oder Willens- und Entscheidungsfreiheit gesprochen. Zum Abschluss dieses Themenabschnittes erscheint es angebracht, diese Beziehung ein wenig genauer zu betrachten und die wichtige Frage zu diskutieren:
Was ist überhaupt das Wesen des Glaubens?
Existiert zwischen religiösem Glauben und Kenntnis und Bewusstsein eine Beziehung und Relation?
Wirkt die Rationalität des Menschen im Hinblick auf die Entwicklung seines Glaubens? Und letztlich, ist der Glaube ein Element, das aufgrund von Entscheidungsfreiheit und Wahl erlangt wird oder wird er dem Menschen als göttliche Gnade aufgezwungen?
Vorausschickend muss ich erwähnen, dass eine ausführliche Diskussion jeder dieser Fragen erfordert, dass man lange Vorträge und Bücher darüber schreibt, wie dies viele Theologen und Religionsphilosophen gemacht haben. Aufgrund der knapp bemessenen Zeit und begrenzten Gelegenheit, die uns hier zur Verfügung steht, versuche ich, diese Fragen in aller Kürze zu beantworten.
Was ist Glaube?
Zuerst muss definiert werden, was mit Glauben gemeint ist. Diese Ansprache soll eine umfassende Antwort auf diese Frage geben, d. h. das Hauptanliegen dieses Vortrages besteht darin, zu einer klaren und genauen Definition von Glauben zu gelangen. Deshalb kann zu Beginn dieser Rede eine solche Definition nicht voraus-geschickt werden, aber um diese Diskussion beginnen zu können, sehe ich mich gezwungen, den Glauben kurz zu definieren, und deshalb sage ich zunächst, dass man Glauben als Bekenntnis bezeichnen kann, ohne dass wir diesen Begriff aus erkenntnistheoretischer oder erkenntniswissenschaftlicher Sicht genauer untersuchen wollen. Im weiteren Verlauf wird dieser Begriff dann genauer und detaillierter erklärt werden.
Über den Begriff Glauben, ungeachtet dessen, auf welche Inhalte er sich bezieht und aus welchen Elementen er sich zusammensetzt, gibt es verschiedene Meinungen und Ansichten. Von muslimischen Theologen und den Theologen anderer Religionen wird der Glaube als ein aufrichtiges herzliches Phänomen und eine innere Wahrnehmung verstanden. Viele zeitgenössische Religionsphilosophen und Theologen im Westen definieren den religiösen Glauben als religiöse Erfahrung. Andere sehen im Glauben grundsätzlich ein pragmatisches Wesen, das bedeutet, der Glaube stellt für sie die Ausübung der religiösen Pflichten und ein Verhalten dar, das auf religiösen Lehren basiert. Diese zwei Sichtweisen teilen Gemeinsamkeiten, weisen in gewissen Punkten aber auch Unterschiede auf. In beiden Perspektiven ist der Glaube von jeder Art von Kenntnis entleert worden. Ein herzliches Bekenntnis kann ein vollkommen innerliches Phänomen sein, das letztlich auf keiner Wirklichkeit in der Außenwelt basieren muss, und das in keiner rationalen und logischen Struktur beschreibbar ist.
Der auf rationaler Einstellung basierenden Kenntnis steht ein subjektives Gefühl von einer objektiven Wahrnehmung gegenüber. Prinzipiell wird Einsicht und Erkenntnis nur mittels Reflexion und Vergleichen der inneren und der äußeren Welt erlangt. Gemäß der zweiten Sichtweise können Taten und Engagement, d. h. Glauben, wenngleich sie auf Kenntnis und Bewusstsein basieren, auch durch Gefühl und spirituelle, emotionale und psychische Interessen hervorgerufen werden; gemäß dieser Sichtweise müssen die Taten vom Menschen nicht auf der Kenntnis und dem Bewusstsein des Menschen basieren, sondern viele Taten haben ihre Wurzel in Dingen, die nicht mit Kenntnis und Bewusstsein zu tun haben.
Abgesehen von diesen zwei Sichtweisen gibt es eine dritte Ansicht, wonach der Glaube nichts anderes ist als Kenntnis und Bewusstsein von der Wirklichkeit und Wahrheit des Universums, d. h. eine bewusstseinsgebende Wahrheit, was der wesentlichen Aufgabe der Religion entspricht. In dieser Sicht sind Glaube und Überzeugung fast identisch und gleich, d. h. mit religiöser Überzeugung ist religiöser Glaube gemeint, und in diesem Sinne ist der religiös überzeugte Mensch ein gläubiger Mensch.
Aus dem Heiligen Qur’Án geht jedoch hervor, dass Glauben nicht nur reines inneres Gefühl, reine Tat oder rein wissenschaftliche Kenntnis ist.
Im Qur’Án wird der Unglaube (kufr) dem Glauben gegenübergestellt, und der KÁfir (Ungläubige) ist derjenige, der die Wahrheit nicht akzeptiert und bekämpft. Feindschaft mit der Wahrheit ist gleichbedeutend mit Feindschaft mit der Wirklichkeit, obwohl man ein Bewusstsein und eine Kenntnis davon hat, wonach das richtig ist. Aus qur’Ánischer Sicht besteht das schlechteste und hässlichste Verhalten des Menschen darin, dass man in die Gefangenschaft von Unglauben gelangt. Deshalb unterscheidet sich Unglaube im qur’Ánischen Sinne grundsätzlich von einem derartig oberflächlichen Verständnis von diesem Begriff, und er unterscheidet sich auch von philosophischem Zweifel oder philosophischer Negierung.
Der Qur’an spricht ganz deutlich von einer Gruppe von Menschen, die dem Bewusstsein und der Kenntnis feindlich gesinnt sind, und die keine Achtung vor Wissenschaft haben oder sie sogar ablehnen. Diese Menschen sind ungerechte Menschen, die in die Irre gehen, und die aufgrund ihres Hochmutes und ihrer Ungerechtigkeit die Zeichen Gottes leugnen (vgl. Sure an-Naml, Vers 14). In diesem Sinne ist es durchaus möglich, dass jemand un-geachtet seiner Kenntnis von der Wahrheit und den Wirklichkeiten, dennoch ungläubig wird und vom Glauben Abstand nimmt. D. h. der Glaube kann nicht nur auf Bewusstsein und Kenntnis basieren, zweifellos ist Erkenntnis jedoch ein wichtiger und wesentlicher Teil des Glaubens. Wenn die Erkenntnis des Menschen von der ideellen und psychischen Ebene weiter geht, und den Menschen davon überzeugt, so dass diese Überzeugung in das Herz und tief in das Wesen des Menschen eindringt, kann man dies als Glauben bezeichnen. Folglich kann man jedes Be-wusstsein und jede Kenntnis als Bekenntnis bezeichnen.
Vom Glauben hingegen kann man nur reden, wenn diese herzliche Annahme und Besonderheiten im Inneren des Men-schen vorhanden sind, und in einem solchen Fall wird die Kenntnis den Menschen zur Tat führen.
Glauben und gute Tat
Der Qur’an spricht von einer kontinuierlichen Beziehung zwischen dem Glauben und der guten Tat. Obwohl gute Taten auch außerhalb des Rahmens von Glauben erklärt werden können, und gute Taten durch ein pragmatisches Wesen gekennzeichnet sind, sind sie dennoch ein Zeichen von Glauben. Deshalb kommt die gute Tat im Qur’an immer nach dem Glauben. Wenn Kenntnis und innere Überzeugung und Interesse eine Einheit werden, wird dies in guten Taten resultieren. Der Qur’an nennt die wichtigsten Verhaltensweisen der Gläubigen. Danach sind die erfolgreichen Gläubigen diejenigen, die beim Gebet und der Anbetung Gottes demütig sind, keine unsinnigen Taten und Verhalten aufweisen, hilfreich sind, Almosen spenden und ihre Neigungen kontrollieren (vgl. Sure Mu’minun, Verse 1-5).
Unterschied zwischen Glauben und Islam
Ein weiterer Punkt, den es zu beachten gilt, ist das religiöse Bekenntnis, das unterschiedliche Ränge und Stufen hat. So können auf einer Stufe Vernunft und Gedanken den Mensch beispielsweise überzeugen, aber diese ideelle Überzeugung impliziert nicht notwendigerweise eine überzeugende Tat. Der Qur’an spricht von einem solchen Menschen manchmal als Muslim und von seinem Glauben als dem Islam, aber es gibt einen gewissen Unterschied zwischen Islam und Glauben einerseits und Muslim und Gläubigem andererseits. Das ist ein Abstand, der manchmal überhaupt nicht überwindbar ist in dem Sinne, dass der überzeugte Mensch niemals ein gläubiger und wohltätiger Mensch wird.
Der Qur’an spricht diesen Unterschied sehr deutlich an, wo z. B. die Wüstenaraber sagen, sie seien gläubig, und woraufhin sie zurechtgewiesen werden, dass sie zwar den Islam angenommen hätten, der Glaube aber noch nicht in ihre Herzen eingedrungen sei (vgl. Sure al-¼uºurÁt, Vers 14).
Der Islam ist eine Stufe der religiösen Überzeugung, auf der die betreffende Person sich verantwortlich fühlt gegenüber der religiösen Lehre, unabhängig davon, ob diese Behauptung in Wirklichkeit im Glauben wurzelt. Auf jeden Fall muss man dies vom Glauben unterscheiden.
Die Differenzierung zwischen Islam und Glauben ist eine der wichtigsten qur’anischen Lehre, die eine kritische Interpretation der muslimischen Gesellschaft zulässt.
Gemäß dieser Differenzierung soll individuelles und kollektives Verhalten der Gläubigen niemals als Grundlage für ein Urteil über den Islam dienen, und es soll keine Basis für ein Urteil über die religiöse Lehre sein, weil viele Muslime diese Lehren praktisch nicht in die Tat umsetzen, wenngleich sie in ihrem Verhalten zum Ausdruck bringen, dass sie diese religiösen Lehren akzeptieren und sich dafür verantwortlich fühlen. Ein wichtiger Punkt hierbei ist, dass diese kritische Methode nicht den soziologischen oder psychologischen Methoden entspricht, sondern dass es sich hierbei um eine Erkenntnismethode handelt. In der islamischen Offenbarung und im göttlichen Wort wird mit aller Deutlichkeit gesagt, dass das Verhalten und Tun der Muslime nicht in allen Fällen auf Gläubigkeit und religiösem Glauben basiert.
Die Stufen des Glaubens
Davon abgesehen hat der Glauben verschiedene Stufen der Vollkommenheit, d. h. nicht alle Gläubigen sind auf derselben Stufe des Glaubens, sondern, wie aus manchen islamischen Überlieferungen hervorgeht, gibt es im Glauben bis zu zehn Stufen.
Wenn jemand die zehnte Stufe des Glaubens erreicht hat, gibt ihm das nicht das Recht, jemanden, der sich auf der ersten Stufe des Glaubens befindet, abzulehnen. Aber es gibt diese deutlichen Unterschiede.
Höhere Stufen des Glaubens können durchaus verursachen, dass der Gläubige in einen Zustand gelangt, in dem er direkt mit einer religiösen Erfahrung oder einem heiligen Phänomen konfrontiert wird und nicht durch Nachdenken, Informationsvermittlung und dergleichen. Das ist ein besonderer Zustand, der auch in einem besonderen Bewusstsein resultiert. Religiöse Erfahrung in dieser Form ist eine Art göttlicher Gnade, die dem gläubigen Mensch zuteil wird; es muss ihm jedoch bewusst sein, dass erstens diese Erfahrung von diesem geistigen
Zustand nicht allgemein erlangt wird, sondern dass es sich um besondere Erfahrungen von manchen Gläubigen handelt, die einen besonderen Zustand erlangt haben. Zweitens kann man religiöse Erfahrung nicht mit dem Glauben gleichsetzen; ansonsten müsste man jeden, der keine praktische Erfahrung erlangt hat, als ungläubig bezeichnen. Wenn jemand jedoch rationales Bewusstsein und innere Akzeptanz vom Ursprung des Universums und der göttlichen Lehren hat, gehört er zur Gruppe der Gläubigen. Die religiöse Erfahrung soll jedoch bei anderer Gelegenheit ausführlicher besprochen werden.
Aus dem bisher Gesagten kann man zu den nachfolgenden Ergebnissen gelangen:
1. Vernunft und Erkenntnis stehen nicht im Widerspruch zum Glauben, sondern vielmehr basiert der Glaube auf der Vernunft und dem Bewusstsein des Menschen.
2. Der Glaube steht nicht im Widerspruch zu Freiheit und Entscheidungsfreiheit, sondern ohne Freiheit kann Glauben nicht zustande kommen, was wir in der Vergangenheit bereits ausführlich besprochen haben.
3. Erkenntnis ist nicht absolut, genau so wenig wie die innere Erfahrung und die herzliche Wahrnehmung nicht absolut sind, sondern es bedarf einer Art entwickelter Erkenntnis, um die Seele und das Herz des gläubigen Menschen zu überzeugen.
4. Gutes Verhalten und gute Taten werden notwendigerweise durch Glauben verursacht.
5. Die Differenzierung zwischen Islam und Glauben ist eine qur’anische Lehre, die den Weg für eine individuelle und gesellschaftliche Kritik für die Muslime offen lässt, und der Qur’an selbst lehrt diese Methode der Kritik.
6. Der Glaube ist nicht gleichbedeutend mit religiöser Erfahrung, sondern für den religiösen Menschen kann es auf bestimmten Stufen des Glaubens eine solche Erfahrung geben.
Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.