Die Interpretation von Schrift und Sunna

Zunächst muss man wissen, dass es ungeachtet der Existenz unterschiedlicher islamischer Rechtsschulen, im Hinblick auf ihre grundlegenden islamischen Prinzipien und muslimischen Maßstäbe (d. h. Muslim zu sein) zwischen diesen Rechtsschulen nicht die geringsten Unterschiede gibt.

Jede Religion setzt sich aus einer Menge von Glaubensinhalten und heiligen Begriffen, besonderen religiösen Zeremonien und Anbetungen zusammen, und

neben den Überzeugungen und Anbetungen gibt es in der Regel einen besonderen heiligen Ort, in dem Gottesdienste stattfinden.

Die größten Gemeinsamkeiten der islamischen Rechtsschulen

Der Islam besteht wie die anderen Religionen aus dem Glauben, der die Hauptsubstanz der islamischen Theologie ausmacht. Der Glaube an die Einzigkeit Gottes, an Seinen Propheten Muhammad (s.a.s.) und den Qur’an, das Wort Gottes, das Muhammad offenbart wurde, und der Glaube an den Tag der Auferstehung und das Jenseits sind die Hauptprinzipien der islamischen Theologie. Jeder, der an diese Prinzipien glaubt, ist ein „Muslim“, ohne dass es einer weiteren Voraussetzung bedarf. Die genannten Grundlagen werden von allen islamischen Rechtsschulen vorbehaltlos akzeptiert, und folglich sind die Hauptprinzipien der islamischen Theologie allen Muslimen gemeinsam. Aber die Gemeinsamkeiten und der Konsens der islamischen Rechtsschulen ist nicht darauf begrenzt, sondern ungeachtet ihrer pluralistischen Struktur weisen sie auch hinsichtlich des Gebetes und der islamischen Zeremonien viele Gemeinsamkeiten auf. Das rituelle Gebet, das Fasten, die Pilgerfahrt und die Almosenspende gelten als die wesentlichen Gottesdienste der Muslime, und sie werden von allen islamischen Rechtsschulen gleichermaßen akzeptiert. Aus diesem Grunde sind die Gemeinsamkeiten und die Einheit der Muslime so tiefgründig, so dass sie nicht nur in der islamischen Theologie, sondern auch was ihre religiösen Zeremonien, Gebete und die Art der Anbetungen anbelangt, sehr viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Darüber hinaus ist ihnen der Ort der Anbetung, nämlich die Moschee, gemeinsam. Es gibt kaum Unterschiede zwischen schiitischen und sunnitischen Moscheen. Im Grunde ist die Unterteilung in sunnitische und schiitische Moscheen falsch und widerspricht dem Sinn von Qur’an und Sunna. Im Islam ist die Bedeutung der Moschee an sich wichtig, ungeachtet dessen, welche Gruppe von Muslimen eine Moschee erbaut hat. Das Gebet in der Moschee hat einen besonderen Gotteslohn und einen ungleich höheren Wert, und folglich ist es völlig bedeutungslos, ob Sunniten oder Schiiten eine Moschee erbaut haben.

Die Interpretation der heiligen Quellen im Islam

Die Interpretation der heiligen Quellen ist das wichtigste Thema, mit dem die Anhänger der Religionen nach dem Ableben der Gründer der Religionen konfrontiert sind. Der Fortbestand und die Existenz einer jeden Religion hängen von der Interpretierbarkeit ihrer heiligen Quellen ab. In der Regel gibt es unter den Anhängern aller Religionen immer einige, die sich gegen jede Art der Interpretation der heiligen Quellen verwehren und daran glauben, dass man nur das Äußerliche der Religion praktizieren soll und keinerlei Interpretation und Exegese bedarf.

Sicherlich ist eine solche Meinung theoretisch und praktisch unmöglich, denn sie impliziert, dass ein historischer Ausschnitt der Vergangenheit der Geschichte und der Menschheit insgesamt aufgezwungen werden soll, und das ist  selbst wenn es theoretisch vorstellbar wäre  unmöglich realisierbar.

Auch unter den Muslimen gab und gibt es einige, deren Glaubensauffassung keine Veränderungen in der religiösen Begrifflichkeit zulässt. Sie glauben, dass das Äußerliche der Religion ohne jegliche Veränderung praktiziert werden soll und keiner Interpretation bedarf. Eines der wesentlichen Probleme in religiösen Gesellschaften sind genau die Menschen, die nur dem Äußerlichen der Religion Aufmerksamkeit schenken. Aber die Mehrheit der Muslime und die verschiedenen Rechtsschulen sind davon überzeugt, dass die heiligen islamischen Quellen, d. h. der Heilige Qur’an und die Sunna, also die Aussagen und Verhaltensweisen des Propheten, interpretierbar sind, und dass diese Lehre ohne Interpretation nicht praktikabel ist.

Hier wird deutlich, wie weitreichend die Gemeinsamkeiten der islamischen Rechtsschulen sind, und der Grund hierfür ist die Akzeptanz der Interpretierbarkeit der heiligen Quellen von der Mehrheit der Muslime. Der Qur’an selbst hebt deutlich hervor, dass einige Verse mittels anderer interpretiert werden müssen. Wenn manche Verse im Gegensatz dazu nicht interpretiert werden, so ist das die Ursache für Irregehen und Verderben. Das ist eine Besonderheit und ein positiver Aspekt des Heiligen Qur’an.

Der wesentliche Unterschied zwischen den Rechtsschulen manifestiert sich in der Methodologie der Interpretation des Qur’an. Hier stellt sich die Frage, was den Maßstab und die Grundlage der Interpretation ausmacht und inwieweit der Heilige Qur’an interpretierbar ist.

Vernunftbetonte Interpretation der islamischen Quellen

Der wesentliche Aspekt im Hinblick auf die Interpretation der heiligen islamischen Quellen ist die Beachtung und Betonung des Prinzips „Vernunft“ beim Verstehen und Interpretieren der Quellen. Die heiligen Quellen, vor allem der Qur’an, sprechen zum Menschen, und es versteht sich von selbst, dass dabei die menschliche Vernunft angesprochen wird. Deshalb beruht jedes Verstehen der Offenbarung auf der Vernunft und der Kenntnis der Vernunft. Aus diesem Grund stellt die Vernunft bei der schiitischen Methode der Interpretation den Hauptmaßstab dar.

Jede Art von Interpretation des Heiligen Qur’an und der Sunna, die dem Urteil der Vernunft widerspricht und von der Vernunft nicht akzeptiert wird, ist falsch und abzulehnen. Grundsätzlich liegt eine Möglichkeit, die Richtigkeit der Überlieferungen vom Propheten und den anderen religiösen Vorbildern festzustellen, darin, sie auf ihre Vereinbarkeit mit dem endgültigen Urteil der menschlichen Vernunft zu überprüfen. Wenn eine Überlieferung der menschlichen Vernunft widerspricht, so darf ihr gemäß nicht gehandelt werden, auch wenn sie dem Propheten zugeschrieben wird oder von Personen überliefert wurde, die gemeinhin als zuverlässig und wahrhaftig gelten.

Das Prinzip der umfassenden Sichtweise bei der Interpretation der islamischen Quellen

Ein wichtiger Grundsatz bei der methodischen Interpretation des Heiligen Qur’an ist nach schiitischer Meinung die umfassende Sicht auf Qur’an und Sunna, d. h. Qur’an und Sunna sollen grundsätzlich als eine Gesamtheit berücksichtigt werden. Das Prinzip der umfassenden Sichtweise hilft uns zu verstehen, dass der Qur’an dem Propheten des Islam

zwar im Laufe von 23 Jahren offenbart wurde, dass aber die Gesamtheit des Qur’an eine Vielzahl von Versen sind, die in einem engen Zusammenhang miteinander stehen. Das ist vergleichbar mit einem Redner, dessen Vortrag man bis zum Ende hören sollte, und aus dessen Rede man nicht einen Teil herausnehmen und seine Argumentation darauf aufbauen sollte. Es ist möglich, dass er am Anfang seiner Rede einen Punkt erwähnt, den er im weiteren Verlauf oder sogar am Ende seiner Rede erst erklärt und seine Absicht deutlich macht. Deshalb darf man nicht über den Vortrag urteilen, bevor er beendet wurde. Gleichermaßen darf man im Hinblick auf den Qur’an nicht nur einen Teil der Verse berücksichtigen, ohne die anderen Teile in die Argumentation einzubeziehen.

Gemäß dieser Sichtweise bedarf man für die Interpretation der Qur’anverse vor jeder anderen Quelle zunächst des Qur’ans selbst; es gilt, die Gesamtheit der qur’anischen Verse zu berücksichtigen, damit man die unterschiedlichen Verse, die miteinander verbunden sind, klarer interpretieren und deutlicher verstehen kann. Oftmals gewinnt ein Vers eine andere Bedeutung, wenn er im Kontext anderer Verse gesehen und verstanden wird, als wenn man den Vers für sich allein interpretiert.

Das Prinzip der Bedeutung bei der Interpretation der islamischen Quellen

Ein weiteres methodisches Prinzip für die Interpretation der heiligen Quellen (Schrift und Sunna) ist das Prinzip der Bedeutung im Unterschied zum äußerlichen Wortlaut. Beim Verstehen und der Interpretation des Buches und der Sunna darf man nicht nur auf das Wörtliche achten, sondern man muss die tiefe Bedeutung erkennen, die der Maßstab und die Grundlage für die Tat ist. Wenn z. B. in einer Stadt eine Fluggesellschaft wirkt, die nicht sehr erfolgreich ist und das Leben der Passagiere wiederholt gefährdet hat, und ein Vater deshalb seinem Sohn empfiehlt, nicht zu fliegen, sondern stattdessen mit der Bahn zu reisen, dann bedeutet das nicht, dass der Vater bei jeder Gelegenheit eine derartige Empfehlung für seinen Sohn hat, selbst wenn seine Empfehlung auf den ersten Blick so verstanden werden könnte. Wenn wir die Empfehlung des Vaters genau betrachten, so will er mit seinen Worten zum Ausdruck bringen, dass sein Sohn nicht mit einer unsicheren Fluggesellschaft fliegen soll. An diesem Beispiel wird deutlich, dass wir die wahre Bedeutung der Aussage herauskristallisieren können, wenn wir auf den tieferen Sinngehalt achten. Wenn der Sohn also dennoch fliegt, aber auf die Sicherheit der Airline achtet, hat er der Empfehlung seines Vaters entsprochen, der seinen Sohn mit einem sicheren Verkehrsmittel reisen sehen möchte, gleich ob es sich dabei ein Flugzeug oder z. B. einen Zug handelt.

Vieles von dem, was in den Versen des Qur’an und der Sunna des Propheten zum Ausdruck kommt, ähnelt diesem Beispiel. Wenn die tiefe Bedeutung nicht gesucht und nicht beachtet wird, dann resultiert daraus geistige Stagnation. Es verhindert darüber hinaus, dass wir die grundlegende Absicht Gottes und Seines Propheten verstehen; die Religion und die Scharia erscheinen in einem solchen Fall inakzeptabel, denn es entsteht der Eindruck, als wolle die Religion die Menschen von heute jenen von vor 1400 Jahren angleichen, und den Gang der Geschichte und die menschliche Zivilisation an einem bestimmten Punkt festhalten. 

Zu Beginn wurde bereits erwähnt, dass es in allen Religionen und auch im Islam Menschen gibt, deren Sicht auf das Äußerliche beschränkt ist und die die Interpretation der heiligen Quellen für falsch ansehen. Das zuvor angeführte Beispiel hat verdeutlicht, dass selbst diejenigen, die die heiligen Quellen als interpretierbar ansehen, ein oberflächliches Verständnis haben. Auch eine solche oberflächliche Interpretation verhindert, dass die tiefe Bedeutung und die wahre Botschaft der heiligen Quellen offenbar werden. Sie begnügen sich mit einer oberflächlichen Interpretation der Bedeutung, anstatt eine Interpretation zu verfolgen, die die tiefgründige Bedeutung der religiösen Lehren und der im Heiligen Qur’an vorhandenen Begriffe herauskristallisiert. Diese Ziele und Maßstäbe kann man nicht in der äußerlichen wörtlichen Bedeutung der Ausdrücke und Begriffe finden. Vielmehr müssen diese Ziele und Maßstäbe auf einer höheren Ebene gesucht werden, die über der äußeren und wörtlichen Bedeutung der Begriffe steht, und mit Hilfe der Vernunft und Zeugnissen, die außerhalb der wörtlichen und äußeren Bedeutung der Begriffe stehen, muss die tiefe Bedeutung identifiziert werden.

Im Grunde kann man keine genaue und zuverlässige Interpretation vom Heiligen Qur’an geben, wenn einzig die äußerliche und wortwörtliche Bedeutung der Begriffe betont wird. Man kann nur zu einer zuverlässigen Interpretation gelangen, wenn zunächst der in den religiösen Lehren herrschende Geist und die Absichten und Ziele, die in der tiefgründigen Bedeutung der Begriffe zum Ausdruck kommen, herauskristallisiert und erkannt werden. Das ist sicherlich ein schwieriges Unterfangen, das eine profunde Kenntnis und ein hohes Bewusstsein voraussetzt, was nicht jedem gegeben ist.

Gemäß dieser Sichtweise stellen wir aufgrund einer genauen Untersuchung fest, dass ein Gebot, das im Buch und in der Sunna enthalten ist, der Anfangszeit des Islam angehörte und in späteren Zeiten entbehrlich ist; oder wir stellen fest, dass dieses Gebot für eine bestimmte Situation bestimmt ist und es nicht in jeder Situation absolut notwendig und verpflichtend ist.

Deshalb müssen die Gesamtheit des Qur’ans und die erwähnten Regeln und Methoden beachtet werden, bevor man die einzelnen Verse des Qur’an interpretiert. Infolgedessen sollen die Verse, die die grundlegende Absicht und die Ziele im Qur’an erklären, erkannt, und die anderen Verse mittels dieser Verse erklärt werden. Diese Verse sollen als Maßstab und Grundlage für die Interpretation der anderen Verse verwendet werden.

Igtihad – Ein System für die Interpretation der heiligen islamischen Quellen

Was bisher über die Methodologie des Verstehens und der Interpretation der islamischen Quellen gesagt wurde, wird insgesamt als Methode des Igtihad bezeichnet. Die islamischen Quellen dürfen nur diejenigen interpretieren, die sämtliche Voraussetzungen des Igtihad erfüllen. Andernfalls kann man nicht sicher sein, dass die gegebene Interpretation eine Interpretation im Sinne von Gott und Seinem Propheten (s.a.s.) ist. Deshalb ist eine Interpretation unzulässig, wenn der Interpret die zuvor genannte Voraussetzung nicht erfüllt.

Igtihad: ein historischer oder andauernder Prozess?

Das Prinzip, dass die Interpretation der islamischen Quellen durch Anwendung der Methode des Igtihad stattfinden soll, ist grundlegender Natur, und abgesehen von einigen unwichtigen Meinungsunterschieden, wird dies von der Mehrheit der Muslime akzeptiert.

Es gibt jedoch einige islamische Rechtsschulen, die den Igtihad allein auf die ursprünglichen Adressaten des Buches und der Sunna beschränken, d. h. diejenigen, die den Propheten des Islam (s.a.s.) direkt erlebt und seine Worte gehört haben, und einige Gelehrte des ersten Jahrhunderts nach Erscheinen des Islam. Diejenigen jedoch, die nach ihnen lebten und leben werden, haben keine Legitimation zum Igtihad. Das heißt, die Vertreter dieser Ansicht lehnen eine Fortsetzung des Igtihad ab, und folglich sollen die Interpretation und jedes Verstehen vom Buch und der Sunna ihrer Meinung nach im Rahmen des Verständnisses der ersten Muslime stattfinden.

Ist das ursprüngliche Verstehen der Muslime heilig?

Die Schia glaubt gemäß den Lehren der Imame (a.s.), die der Familie des Propheten (s.a.s.) entstammen, dass die Muslime, die zu Lebzeiten des Propheten gelebt haben und folglich in direkter Verbindung zum Propheten des Islam standen, möglicherweise ein besseres Verständnis vom Qur’an hatten. Das bedeutet jedoch nicht, dass ihr Verständnis „heilig“ und „unveränderlich“ ist, und dass alle Muslime im Laufe der Geschichte das praktizieren sollen, was dem Qur’anverständnis jener ersten Muslime entspricht, ohne die Richtigkeit zu überprüfen.

In Wahrheit werden wir Muslime, die wir nun 1500 Jahre nach dem Erscheinen des Islam leben, ebenso wie die Muslime der damaligen Zeit, direkt vom Qur’an angesprochen. Wir müssen darum bemüht sein, Qur’an und Sunna mittels Anwendung der Methode des Igtihad zu interpretieren. Dabei sollen wir das Verständnis der ersten Qur’anadressaten zu Hilfe nehmen. Allerdings spricht kein Grund dafür, dass ihr Verständnis besser wäre als das unsrige, oder dass wir zu keiner besseren Interpretation vom Qur’an gelangen können.

Genaue Untersuchungen machen deutlich, dass die Interpretationen der ersten Muslime und der Muslime, die im ersten Jahrhundert nach dem Erscheinen des Islam lebten, von der damaligen Kultur, den Stammestraditionen und den geografischen Bedingungen, in denen sie lebten, beeinflusst waren. Diese Faktoren haben ihre Interpretation vom Qur’an und ihr Verständnis vom Islam beeinflusst, obwohl diese Kultur zuweilen im direkten Widerspruch zu den islamischen Lehren stand. 

Zeitlichkeit des Igtihad (Die Rolle der zeitlichen und örtlichen Veränderungen)

Für die Methode des Igtihad ist die Berücksichtigung der Maßstäbe und der notwendigen Prämissen für die Interpretation der islamischen Quellen bedeutsam. Diese Maßstäbe und Prämissen sind bekannt, und folglich kann es zu jeder Zeit muslimische Gelehrte geben, die unter Berücksichtigung der Bedingungen von Ort und Zeit die islamischen Quellen interpretieren können.

Es wurde bereits erwähnt, dass der Igtihad die Interpretation der islamischen Quellen auf der Grundlage bestimmter Methoden und Maßstäbe ist, die vom Qur’an und der Sunna bestätigt werden. Deshalb gibt es keinen Grund dafür, den Prozess des Igtihad als zeitlich zu bestimmen, wonach nur einige Menschen, die vor mehr als tausend Jahren gelebt haben, dazu berechtigt wären. Grundsätzlich ist gemäß der Sichtweise der Schia eine grundlegende Voraussetzung des Igtihad die Betonung der menschlichen Vernunft und die Berücksichtigung der Veränderlichkeit von Zeit, Ort und den Sitten der unterschiedlichen Gesellschaften. Tatsächlich können die historischen, geografischen, tribalistischen, ethnischen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen manche islamischen Gebote und die Interpretation der religiösen Quellen beeinflussen. Deshalb kann man den Prozess des Igtihad in einem bestimmten historischen Zeitabschnitt nicht für beendet erklären, sondern der Wert und die Funktion des Igtihad liegt in seiner historischen Dauerhaftigkeit begründet.

Der Igtihad verleiht uns die Möglichkeit, mit ausschließlich grundlegenden islamischen Maßstäben und Zielen die islamischen Quellen den veränderten neuen kulturellen, gesellschaftlichen und geografischen Bedingungen einer jeden Epoche gemäß zu interpretieren. Zusammengefasst bedeutet das, dass uns die Möglichkeit der Reinigung der islamischen Gebote und religiösen Interpretationen von den kulturellen und gesellschaftlichen Einflüssen der Anfangszeit des Islam gegeben wird, sofern wir das Verständnis der ersten Muslime nicht als heilig erklären.

Der Glaube an die Kontinuität des Igtihad ist die Voraussetzung für jede neue Interpretation des Islam gemäß den Bedürfnissen und Notwendigkeiten der neuen Welt. Abgesehen von den Diskussionen über die Methode der Interpretation der islamischen Quellen in den verschiedenen Rechtsschulen und der gegebenen besonderen Funktion des Igtihad bei der Interpretation der islamischen Quellen und seiner historischen Kontinuität in der Sicht der Schia, bewirkte dies die Bildung der gesellschaftlichen Institution der religiösen Autorität bei den Schiiten. Es wurde festgestellt, dass der Igtihad ein dynamisches und kontinuierliches System ist, und es deshalb zu jeder Zeit die Möglichkeit gibt, dass einige religiöse Gelehrte diesen Rang erreichen. Die Muslime können auf gänzlich demokratische Weise aus den Gelehrten, die die religiöse und wissenschaftliche Befähigung zur Interpretation der islamischen Quellen haben und Rechtsgutachten erstellen können, einen von ihnen zur religiösen Autorität wählen und in ihren religiösen Angelegenheiten seine Rechtsgutachten befolgen.

Es ist möglich, dass es in einem Zeitraum mehrere Gelehrte gibt, die hinsichtlich ein und derselben Angelegenheit unterschiedliche Rechtsgutachten erstellen, und die Muslime können einen von ihnen zu ihrer religiösen Autorität erwählen; d. h. alle diese Gelehrten und Exegeten sind ungeachtet ihrer Unterschiedlichkeit legitim.

Die Institution der religiösen Autorität ist eine gänzlich zivile Institution, die auf zwei Säulen gründet:

  1. Die Voraussetzungen und besonderen Fähigkeiten der Person des Mujtahids (d. h. zum Igtihad befähigten Gelehrten).
  2. Der Einfluss auf die Muslime, die einen von diesen Gelehrten akzeptiert haben und sich in ihren religiösen Fragen nach ihm richten.

Deshalb erkennen die Muslime in diesen Gelehrten und religiösen Autoritäten in der Regel eine zivile Macht gegenüber der offiziellen staatlichen Macht, und weil diese Gelehrten von der offiziellen Macht unabhängig sind, konnten sie in speziellen historischen Zeitabschnitten die staatliche Macht beeinflussen und deren Vorgehensweisen ändern. Sie haben eine besondere Befähigung und Kapazität, unter den Muslimen gesellschaftliche Bewegungen in Gang zu setzen. In einigen islamischen Gesellschaften gibt es aufgrund des Glaubens an die zeitliche Begrenztheit des Igtihad und die absolute Legitimation der politischen Macht keine Institution der religiösen Autorität, die von der Staatsmacht unabhängig ist und folglich sind deren besonderen Funktionen auch nicht zu sehen.

Wichtige Anmerkung

Abschließend soll angemerkt werden, dass überall da, wo von den Unterschieden zwischen den islamischen Rechtsschulen die Rede ist, dies niemals in dem Sinne geschieht, dass man die Besonderheiten aufzeigen kann, mit denen man die ganzen Unterschiede zwischen den Rechtsschulen exakt und einzeln deutlich machen und eine Begrenzung und völlige Trennung zwischen ihnen erreichen kann.

Wenn von Unterschieden zwischen den Rechtsschulen die Rede ist und gefordert wird, dass die Unterschiede und Verschiedenheiten zum Ausdruck gebracht werden, können diese Forderungen nicht der Mehrheit der Anhänger der jeweiligen Rechtsschule und der Mehrheit ihrer Gelehrten zugeschrieben werden, und zwar
weil in jeder einzelnen Rechtsschule viele Gelehrte, Rechtsgelehrte und Exegeten gefunden werden, deren konfessionellen Meinungen und
Ansichten den Auffassungen und Ansichten ähneln, die in den
anderen Rechtsschulen diskutiert werden.

So gibt es z. B. unter den Sunniten die gängige Meinung, wonach schiitische Gelehrte anerkannt sind, und viele der bei den Schiiten verbreiteten Ansichten betreffen die Akzeptanz der Gelehrten der anderen Rechtsschulen; so wie vor vielen Jahren der Scheich der Al Azhar als höchster Religionsgelehrter der Sunniten ein eindeutiges Rechtsgutachten erlassen hat, wonach die Anhänger aller Rechtsschulen die schiitischen Rechtsgelehrten an die Stelle ihrer eigenen Rechtsgelehrten setzen und nach deren Grundsätzen handeln können.

Auch viele Gelehrte und Theologen der verschiedenen islamischen Rechtsschulen, die intellektuell und aufgeklärt dem islamischen Recht (Scharia) und der Exegese der Qur’anverse die Achse der Vernunft zu Grunde legen, haben die schiitische Igtihadtheorie akzeptiert und handeln auf dieser Grundlage.

Ayatollah Seyyed Abbas Hosseini Ghaemmaghami ist islamischer Gelehrter und Theologe mit Schwerpunkt Islamische Philosophie und Professor für Vergleichende Philosophie und Mystik.

2004 übernahm er die Leitung des Islamischen Zentrums Hamburg; er ist ebenfalls Vorsitzender der Islamisch-Europäischen Union der Schia-Gelehrten und Theologen.

S. A. Hosseini Ghaemmaghami*

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