Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.

In der letzten Freitagsansprache wurde gesagt, dass die Sünde wie ein Schleier ist, der die Sicht der Vernunft und des Herzens des Menschen bedeckt, so dass er die Wahrheit nicht erblicken kann, und der die Nähe zu Gott und Seine Begleitung verhindert. Letztlich wird dadurch verursacht, dass der Mensch die Krankheit der Gottvergessenheit und Selbstvergessenheit erleidet. Diese Krankheit kann in ihrer Maßlosigkeit und Stärke eine menschliche und persönliche Katastrophe darstellen, und zwar den Niedergang der menschlichen Persönlichkeit.

Darüber hinaus wird der Mensch durch Wiederholung und Vermehrung der Sünden die Hindernisse und Schleier zwischen sich und Gott so verstärken und ausdehnen, dass er Gott grundsätzlich vergisst und in seinem Leben Gott keine Rolle mehr spielt. In diesem Fall wird die Krankheit Gottvergessenheit eine harte, unkontrollierbare Form annehmen und bewirken, dass alle göttlichen Elemente in der menschlichen Person in Vergessenheit geraten und der Mensch von der Krankheit der vollkommenen Vergesslichkeit befallen ist.

Wenn man bedenkt, dass die wahre Identität und Persönlichkeit des Menschen in ihrer Verbindung zu Gott Bedeutung gewinnt, so wird der Mensch, wenn er diese Verbindung ignoriert, auch sein göttliches Wesen und seine göttliche Persönlichkeit vergessen; auf dieser Stufe der Krankheit wird der heimgesuchte Mensch zu einer verunstalteten Persönlichkeit, wie im Falle der Krankheit der Vergesslichkeit, die ihn sein Menschsein vergessen und sich selbst als ein anderes Phänomen sehen lässt. Ein Mensch, der Gott vergessen hat, wird aufgrund dieser Gottvergessenheit seine wahre Identität vergessen. Die Verbindung Gottes mit dem Men-schen ist keine einfache Verbindung; es ist eine Verbindung, die dem Menschen eine gewisse Identität und Persönlichkeit verleiht. Wenn man diese Verbindung also nicht berücksichtigt und ignoriert, wird das Ergebnis davon eine persönliche Verunstaltung und Identitätskrise sein.

Das Wesen der Sünde aus islamischer Sicht

In der „Gottvergessenheit-Selbstvergessenheit-Anschauung“, von der der Qur’an spricht, gibt es einige wichtige Punkte, die die islamische Anthropologie beschreibt. Der erste Punkt be-trifft die Wahrheit und das Wesen der Sünde. Aus islamischer Sicht resultiert die Sünde aus dem Fernbleiben des Menschen von seinem Ursprung und dem Vergessen seiner göttlichen Identität. Der Islam vertritt wie das Christentum die Ansicht, dass die Sünde eine wichtige Bedeutung für das Schicksal des Menschen hat, und zwar so sehr, dass die Sünde letztlich auf das Schicksal und die Glückseligkeit des Menschen verändernd einwirken kann. Die Definition, die der Islam von der Sünde gibt, entspricht nicht dem Verständnis von Sünde im Christentum, wonach die erste Sünde, die von Adam und Eva begangen wurde, eine Sünde für alle nachkommenden Generationen ist und das Schicksal und Wesen des Menschen beeinflusst und bewirkt hat, dass das Wesen des Menschen verkommen und sündig wurde (vgl. Römer-briefe, 19). Aber aus islamischer Sicht hat der Mensch kein sündiges und revoltierendes We-sen, sondern in ihm stecken Fähigkeiten, die seine Glückseligkeit und Neigung zu guten Eigenschaften garantieren. Die Sünde ist im Gegenteil zu einer Hauptsubstanz ein akzidentielles Phänomen. Der wichtigste Unterschied zwischen akzidentiellen und substanziellen Phänomenen liegt erstens darin, dass die akzidentellen Phänomene sekundär sind. Flüssigsein und Beweglichsein sind besondere Eigenschaften der Substanz Wasser und anderer Flüssigkeiten. Jede Flüssigkeit fließt automatisch und hat keine Gestalt. Selbstverständlich kann man diese Flüssigkeit frieren lassen und ihr dadurch eine bestimmte Gestalt geben. Aber die Festigkeit und das Annehmen einer Gestalt sind ein akzidentielles Prinzip, das im Widerspruch zu seinem essentiellen Ursprung steht und somit einen Widerspruch zu der Natur der Flüssigkeiten darstellt. Und aufgrund dieses Widerspruches zur Natur der Flüssigkeit, denn erstens ist diese Eigenschaft von Anfang an in der Flüssigkeit nicht gegeben, bedarf es zweitens zur Verwirklichung dieser Eigenschaft (d. h. Verfestigen) einer äußerlichen Ursache.

Die Sünde ist im Menschen ein akzidentielles Phänomen. Prinzipiell ist der Mensch niemals sündig oder rebellisch; seine Revolte gegen den göttlichen Willen geschieht in einem sekundären Prozess und allmählich. In der islamischen Lehre wird das Wesen des Menschen wie ein klarer und glänzender Spiegel gesehen, auf dem die Sünde wie ein schwarzer Punkt sichtbar wird. ImÁm as-Sajad (a.s), der große Führer der Muslime, hat die Begehung der Sünde als eine akzidentielle falsche Tat angesehen, d. h. er hebt gerade diese Zufälligkeit der Sünde hervor. Diese Sicht geht auch aus manchen Gebeten von religiösen Führern hervor, wenn sie Gott so anbeten: „O Gott, lasse zwischen mir und meinen Sünden ein großer Abstand sein!“ So ein Gebet, das so auf dieses akzidentielle und vom Menschen trennbare Phänomen schaut, und berücksichtigt, dass die Sünde nicht im Wesen des Menschen enthalten ist, verdeutlicht, dass der Geist des Menschen von Gott ist und nicht im Widerspruch steht zum Geist Gottes, sondern vielmehr in einem vollkommenen Verständnis miteinander im Einklang sind. Und dieses Verständnis und Zusammensein ist genau die Nähe und das Zugegen sein Gottes beim Menschen, worüber wir bereits gesprochen haben. Durch diese vom Wesen bedingte Harmonie und Nähe kann der Mensch alle göttlichen Eigenschaften vollkommen in sich widerspiegeln und diese Stellung, nämlich Stellvertreter Gottes zu sein, annehmen, von der der Qur’an in Sure al-Baqara, Vers 30 spricht.

Allerdings darf der Punkt nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Mensch eine Mischung aus Geist und Materie ist, und deshalb betont der Qur’an die Zweidimensionalität des Menschen. Das Grundelement seiner Persönlichkeit macht jedoch der Geist aus, der eine göttliche Stel-lung und Identität hat, wie der Qur’an in Sure ÆÁd, Vers 72, klar zum Ausdruck bringt, wo Gott sagt, dass Er dem Menschen von Seinem Geist eingehaucht hat.

Aber neben dem Geist gibt es noch die materielle Natur des Menschen, die in der natürlichen Welt eine Notwendigkeit darstellt. Diese materielle Natur ist ein wichtiges und bestimmendes Element für die Persönlichkeit des Menschen, wenngleich sie im Vergleich zu seinem Geist zweitrangig ist. Und der Qur’Án hebt dies deutlich hervor, indem er feststellt, dass das, was den Menschen zum Menschen macht und das ihn auszeichnet, als höchstes Geschöpf bezeich-net zu werden, vor dem die göttlichen Engel sich niederwerfen, der göttliche Geist und nicht seine materielle Natur ist. Die materielle Natur des Menschen ruft in vielen Fällen in seinem Inneren eine Neigung zu schlechten Dingen hervor, im Unterschied zur göttlichen Veranla-gung, die nach Schönheit und guten Dingen strebt und ihn zu seinem Ursprung, d. h. Gott zurückkehren lässt. Deshalb ist die Persönlichkeit des Menschen aus zwei Dimensionen, der spirituellen und der materiellen, geschaffen worden, wobei das spirituelle Element wesentlich und das materielle Element nebensächlich ist. Entsprechend dieser zwei wesentlichen und nebensächlichen Elemente gibt es im Inneren des Menschen zwei Arten von hauptsächlichen und nebensächlichen Neigungen, nämlich zum einen die Tendenz zu guten und höheren Din-gen und guten Eigenschaften, und zum anderen die Tendenz zu Sünde, also der Entfernung von guten Dingen. Die Zweidimensionalität des Menschen hat in ihm Willen und Selbstbe-stimmung zustande gebracht. Der Wille des Menschen verleiht ihm die Macht der Wahl. Gleichermaßen verursacht die Wahrhaftigkeit des spirituellen Elements in der Persönlichkeit des Menschen, dass seine Neigung zu guten Eigenschaften in ihm tiefer und verwurzelter wird, was ihm selbstverständlich die Entscheidung für gute Dinge und Eigenschaften erleich-tert.

Die Sünde ist in der materiellen Natur des Menschen tief verwurzelt. Die materielle Zunei-gung des Menschen verursacht Widerspenstigkeit gegenüber der göttlichen Veranlagung. Re-bellion und Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Geist des Menschen basieren dem Qur’an zufolge auf einer Zunahme der materiellen Neigungen des Menschen, so dass der Mensch letztlich von diesen materiellen Wünschen unterworfen wird und von der Sünde bezwungen wird, wodurch er sich von der göttlichen Veranlagung entfernt. In der islamischen Lehre wird die spirituelle Dimension der menschlichen Persönlichkeit, die ja der göttliche Geist ist, Ver-anlagung (FiÔra) genannt, seine materielle Dimension wird als Natur, d. h. nafs-al-‚ammÁra (Triebseele) bezeichnet, und die Neigungen und Vorlieben seiner materiellen Natur werden Instinkt genannt.

Die Zweidimensionalität der menschlichen Persönlichkeit, wobei die göttliche und spirituelle Dimension des Menschen das Hauptprinzip und seine materielle Dimension das Nebenprinzip darstellt, kann niemals dahingehend interpretiert werden, dass die materielle Natur unnütz ist und einfach außer Acht gelassen werden kann, man also seinen Neigungen nicht antworten darf. Der Qur’an lehrt den Menschen vielmehr, dass Vollkommenheit, d. h. die Herrschaft und Praktizierung des göttlichen Geistes im Menschen ohne richtige Nutzung und Kontrolle seiner materiellen Natur nicht erreicht werden kann. In der Philosophie der Schöpfung wird das Grundprinzip der materiellen Natur des Menschen als das beste und fähigste Mittel zur Vervollkommnung dargestellt, allerdings gibt es Momente, in denen diese Natur für den Men-schen Krisen hervorgerufen und seinen Vervollkommnungsprozess gestört hat, und zwar ge-nau dann, wenn der Mensch seine unkontrollierbaren Triebe beantwortet.

Der Heilige Qur’Án beschreibt die materielle Natur als gierig und habsüchtig und stellt fest, das die materielle Natur des Menschen ihn nur in diesem Zustand zu Rebellion und Ungehor-sam gegenüber dem göttlichen Geist und seiner spirituellen Dimension aufruft, und unter Be-rücksichtigung dieser besonderen und extremen Eigenschaft wird die materielle Natur, d. h. die Dimension der menschlichen Persönlichkeit, die immer nach mehr strebt und mit ihren außergewöhnlichen Wünschen das Mittelmaß überschreitet, in der qur’anischen Sprache als „Nafs al-‚ammara“ bezeichnet. Der Begriff „’ammara“ wird in der arabischen Sprache für etwas verwendet, das übertriebene Wünsche und Verlangen hat. Wenn diese Maßlosigkeit und diese außergewöhnliche Verlangen kontrolliert werden und in ein Mittelmaß gebracht werden, stellen die materielle Natur des Menschen, seine Instinkte und seine materiellen Nei-gungen kein Hindernis für seine Vervollkommnung dar, sondern sind vielmehr ein Mittel, das ihm hilft, seine Vervollkommnung besser zu erreichen. Grundsätzlich ist die Vervollkomm-nung des Menschen nichts anderes als die Kontrolle seiner materiellen Natur im Rahmen der Herrschaft des Geistes. In der vergangenen Ansprache haben wir gesagt, dass das Gleichge-wicht das Wesen und die Wirklichkeit der Menschlichkeit ausmacht. Obwohl die Sünde ihre Wurzeln in der materiellen Natur des Menschen hat, kann sie nicht als Phänomen angesehen werden, das nicht von ihr zu trennen wäre. Die materielle Natur der Neigungen und Interessen wird genau dann in Sünde umgewandelt und ruft genau dann zur Rebellion gegen den göttli-chen Geist auf, wenn diese Neigungen außer Kontrolle geraten und zu einem übertriebenen Streben nach Mehr werden und im qur’anischen Sinne zur Triebseele (nafs al-‚ammÁra) werden. Es verhält sich auch nicht so, dass jeder Wunsch und jede Neigung, die die materielle Natur entwickelt, gleichbedeutend ist mit Sünde und Rebellion. Alle Neigungen und natürli-chen Wünsche des Menschen sind nicht automatisch schlecht und sollten, solange sie nicht aus dem Gleichgewicht geraten, positiv beantwortet werden. Die Berücksichtigung dieser Wünsche ist eine Notwendigkeit für die Vervollkommnung und Entwicklung des Menschen.

Essen, Schlafen, ein ruhiges Leben führen und Wohlstand, sinnliche Freuden usw. sind alles Instrumente, die zur Entwicklung und Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit beitragen, solange sie im Gleichgewicht sind; wenn sie jedoch außer Kontrolle geraten, wer-den sie in Sünde umgewandelt und stören auf dem Weg zur Entwicklung und Vervollkomm-nung des Menschen. Im gleichen Maße wie dieser Prozess der Übertreibung stärker wird, nimmt die Macht des göttlichen Geistes im Menschen ab und wird der Mensch von seiner göttlichen Veranlagung entfernt und kann die Nähe und die Begleitung Gottes nicht erhalten. Ein solcher Mensch wird die Krankheit der Gottvergessenheit erleiden. Sünde und Gottver-gessenheit ist aber kein unveränderbares Schicksal des Menschen wie im Christentum, weil eine besondere Eigenschaft der akzidentiellen Phänomene ihre Vergänglichkeit ist, d. h. die Sünde, die ein akzidentielles Phänomen ist und aus der Rebellion der materiellen Natur her-vorgeht, kann auch verschwinden. In jedem Moment, in dem der Mensch sich entscheidet, seine Natur und Triebseele unter seine Kontrolle zu bringen, hat er sich auf den Gottesweg begeben, und kann er mit Ihm Kontakt aufnehmen.

Der Monat Rama±Án ist ein Monat, in dem die Kontrolle des Menschen über seine Triebseele leichter ist. Die Möglichkeit der Abkehr von der Sünde und der Verbindung mit Gott sind für den Menschen besser als in jeder anderen Zeit. Der Prophet des Islam (s.a.) hat in einem Teil seiner Predigt, in der er über die Vorzüge des Monats Ramadan gesprochen hat, gesagt:

„Denkt in eurem Hunger und eurem Durst an den Hunger und den Durst am Tag der Aufer-stehung.

Gebt den Armen und Bedürftigen Almosen. Zollt euren Alten Respekt. Seid barmherzig zu der Jugend, und seid freundlich zu Bekannten und Verwandten. Hütet eure Zungen vor un-würdigen Worten und eure Augen vor verbotenen Anblicken, und eure Ohren vor Lauten, die nicht gehört werden sollten.

Seid freundlich zu den Waisenkindern, so dass, wenn eure Kinder Waisen werden, auch sie mit Freundlichkeit behandelt werden. Bereut eure Sünden. Erhebt eure Hände zur Zeit der Pflichtgebete, da dies die besten Stunden sind, in denen Gott Seine Diener mit Barmherzigkeit anschaut. Er wird ihnen antworten, wenn sie Ihn rufen, ihnen geben, wenn sie Ihn anrufen und ihnen antworten, wenn sie Ihn bitten.“

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