Die Heiligkeit des Lebens aus der Sicht des Islam

Im Heiligen Qur’an werden für Krieg und Gewalt verschiedene Begriffe gebraucht. Die wichtigsten qur’ani-schen Ausdrücke sind in diesem Zusammenhang harb“, d. h. Krieg (حَرْب), „qitÁl“ d. h. Töten (قتال), „safku-d-dam“ d. h. „Blutvergießen (سَفْكُ الدَّم)und letztlich Cihad“, d. h. Anstrengung (جهاد). Diese vier Begriffe haben keine identische Bedeutung, d. h. man kann sie nicht als „Krieg“ oder „Gewalt“ verstehen, sondern sie haben einen jeweils spezifischen Sinn.

Von diesen vier Begriffen können allein harb als „Krieg“ und „qitÁl“ als „Gewalttat“ übersetzt werden, d. h. sie implizie-ren ein gewalttätiges Vorgehen, und das kann sowohl im Sinne eines Aktes der Verteidigung wie auch der Vergeltung sein. In diesem Sinne trachten diejenigen, die angreifen, nach dem Leben anderer. Dies macht deutlich, dass die qur’anische Ver-wendung dieses Begriffes eher allgemeiner Natur ist. Der Ausdruck „safku-d-dam“ bedeutet „Blutvergießen“, und seine Verwendung wird ebenfalls im Qur’an erklärt.

Von diesen erwähnten vier Begriffen hat das Wort Cihad eine besondere Bedeutung, denn aus qur’anischer Sicht hat er eine vollkommen positive und wertvolle Geltung und bezieht sich auf das Handeln der Gläubigen. Die Erläuterung dieses Begriffes aus der S icht des Qur’an bedarf besonderer Aufmerksamkeit. Einige westliche Geisteswissenschaftler, die im Bereich des Islam und des Qur’an geforscht haben, erklärten den Begriff Cihad als „heiliger Krieg“. Bei ihrer Übersetzung und Verwendung dieses Begriffes sind sie von der auf Augustinus, den großen christlichen Theologen des Mittelalters, zurückgehenden Theorie des gerechten Krieges ausgegangen. Diese Erklärung impliziert einen Aspekt, der nicht per se negativ ist, sondern unter besonderen Umständen als höchstes Gut oder sogar als heilig anzusehen ist. Wenn wir diesen Punkt beachten, dass der Grundsatz der Religion der Glaube an heilige Begriffe ist, gelangen wir unversehens zu dem klaren Ergebnis, dass diejenigen, die Cihad“ mit der Bezeichnung „heiliger Krieg“ übersetzt haben, zu erklären versuchten, „Krieg“ sei ein wesentlicher Bestandteil des islamischen Glaubens, wobei sie Krieg in diesem Kontext so verstanden haben, dass für einen Muslim, der an Gott, den Propheten Muhammad (s.a.s.), den Qur’an, die Auferstehung und das göttliche Gesetz glaubt, diese Dinge heilig sind, und in diesem Sinne ihm auch der Krieg als religiöse Pflicht heilig ist. Das sind die Argumentation und das Urteil, das viele Islamwissenschaftler im Westen während der letzten Jahrhunderte verbreitet haben, und manche von ihnen sind auch nicht davor zurückgeschreckt, den Islam zur „Religion des Schwertes“ zu erklären. Würden wir diese Theorie annehmen, dann würden wir zugleich akzeptieren, dass „Krieg“ im islamischen Kontext als eine dauerhafte Strategie für die Beständigkeit und Verbreitung des Islam, wie auch die Unterwerfung der Nichtmuslime, angewendet wird. In diesem Sinne wäre der Krieg zur Durchsetzung religiöser Ziele eine grundsätzliche Regel, die dann zur Besonderheit wird, wenn die notwendigen Möglichkeiten und die Macht nicht gegeben sind.

Inwieweit ist ein solches Urteil mit der Wahrheit des Islam vereinbar? Erklärt der Islam den Krieg wirklich als „heilig“? Und ist die Übersetzung „heiliger Krieg“ für den Begriff Cihad“ tatsächlich zutreffend?

Damit wir bei der Beantwortung dieser Fragen nicht den gleichen Fehler machen wie die anderen, versuchen wir die Antwort völlig unvoreingenommen direkt dem Qur’an zu entnehmen. Um die qur’anischen Verse in diesem Zusammenhang besser zu verstehen, sollen wir auf die Gewichtung des Qur’ans selbst achten. Der Qur’an sagt mit aller Deutlichkeit, dass nicht nur einige wenige Verse beachtet und gleichzeitig die anderen Verse außer Acht gelassen werden dürfen, sondern dass man den Qur’an in seiner Gesamtheit, die viele Teile bzw. Verse umfasst, berücksichtigen muss. Gleichfalls betont der Qur’an selbst, dass einige Verse aufgrund von Besonderheiten möglicherweise falsch verstanden und interpretiert werden können; diese Verse könnten dadurch dem wesentlichen Ziel Gottes zuwiderlaufen und ein Mittel für Falschheit und Unruhe werden. Um diese Gefahr zu beseitigen, legt der Qur’an ebenfalls fest, dass einige Verse mittels anderer, eindeutiger und klarer Verse verstanden werden müssen und dass für eine genaue Kenntnis vom Qur’an der gesamte Qur’an Berücksichtigung finden muss. Wenn wir diesen Maßstab bedenken, stellen wir fest, dass bestimmte Argumentationen und Behauptungen sehr weit von der Wahrheit des Qur’an entfernt sind, weil sie diesen Prozess nicht durchlaufen haben.

Das Thema „Krieg und Frieden“ ist ein Thema, das in einem größeren Maße als andere Themen ein solches Schicksal erlitten hat, d. h. ohne Berücksichtigung des vom Qur’an geforderten Interpretationsprozesses wurde geforscht und geurteilt. Deshalb brauchen wir eine neue Untersuchung, wenn wir zur qur’anischen Wahrheit gelangen und diese herauskristallisieren wollen. Eine Untersuchung des gesamten Quran und eine vergleichende Berücksichtung aller Verse, die im Zusammenhang mit „Krieg“ stehen, machen zweifelsfrei deutlich, dass es einen „heiligen Krieg“ im Qur’an nicht gibt und dass darüber hinaus Krieg und gewalttätige Auseinandersetzung ungeachtet des damit verfolgten Zieles aus qur’anischer Sicht als hässlichste und schlechteste Phänomene gelten, und ein Krieg, der mit religiösen Absichten verbunden wird, ist noch weitaus hässlicher. Aus der Sicht des heiligen Qur’an ist Krieg weder als Grundsatz akzeptabel, noch als Ausnahme, d. h. Krieg ist auch in Ausnahmefällen und vermeintlichen Notwendigkeiten niemals zu rechtfertigen.

Was ist Krieg?

Krieg ist gemäß einer einfachen und klaren Definition der gewaltsame Einsatz von Waffengewalt mit der Absicht, den eigenen Willen gegen den Willen der anderen durchzusetzen. Diese Definition von Krieg bestätigt oder rechtfertigt der Qur’an unter keinen Umständen und in keiner Form. Den Qur’anversen insgesamt ist eine bestimmte Botschaft zu entnehmen. Dieser Gedanke und diese Botschaft gleichen einem Gebäude, das auf einigen Pfeilern und Hauptelementen basiert, und diese wesentlichen Pfeiler und Elemente bringen wiederum das essentielle Wesen der qur’anischen Botschaft zum Ausdruck. Die Nichtberücksichtigung und Negierung dieser Pfeiler und Elemente schaden der besonderen Botschaft und dem qur’anischen Gedanken, und dadurch wird das Wesen dieser Botschaft beeinträchtigt. Wenn wir diese Pfeiler und Hauptelemente mit den Worten des Qur’an erläutern wollen, müssen wir die Grundlage und das Hauptelement des Qur’an berücksichtigen.

Der Qur’an selbst betont die Wichtigkeit dieser identitätsstiftenden Grundlage mit dem Verweis auf die deutlichen Verse, die sozusagen eine Art „Mutterrolle“ für den gesamten Qur’an übernehmen. Deshalb darf jede Interpretation und Übersetzung vom Qur’an diese „Mutterrolle“ der eindeutigen Verse nicht außer Acht lassen, da andernfalls eine Argumentation im qur’anischen Sinne unmöglich ist. Ein solches wichtiges Prinzip und eine Hauptsäule stellen der Wille und die Freiheit des Menschen dar. Die Bedeutung dieses Prinzips ist so umfassend, dass die gesamte islamische Theologie und das göttliche Gesetz, das im Qur’an erklärt wird, darauf gründen. Die Scharia und die Theologie des Islam übertragen die Verantwortung dem Menschen, und ohne seinen Willen hat dieses Prinzip keine Bedeutung. Mehrmals im Qur’an sagt Gott Seinen Propheten, dass sie nicht das Recht haben, sich in den Entscheidungsprozess des Menschen einzumischen und ihnen etwas aufzuzwingen. So wird z. B. erwähnt, dass Gott die Menschen von Anfang an nicht als freies Wesen mit Selbstbestimmung und Willenskraft erschaffen hätte, wenn es ihnen erlaubt wäre, anderen ihren eigenen Willen aufzuzwingen. Das ist ein wesentlicher Bestandteil des qur’anischen Gedankens, den wir nicht vernachlässigen dürfen. Aus diesem Grund wird Krieg nicht nur uneingeschränkt verurteilt und für schlecht erklärt, sondern jedes Verhalten, das den menschlichen Willen verneint, steht im klaren Widerspruch zu den eindeutigen Qur’anversen. Gott erklärt im Qur’an, dass es die Pflicht der Propheten ist, die Menschen aufzuklären, während Er von den Menschen erwartet, dass sie ihre Verantwortung Ihm gegenüber wahrnehmen. Es ist der Mensch selbst, der die göttliche Einladung annimmt oder ablehnt, und folglich wird er das Ergebnis seines Tuns am Tag der Auferstehung sehen. Niemand, auch nicht die Propheten Gottes, dürfen anderen ihren Willen aufzwingen, und wenn die Menschen den göttlichen Empfehlungen widersprechen, dürfen sie sie auch nicht bestrafen. Bestrafung und Belohnung obliegen Gott selbst am Tag der Auferstehung. Weder Krieg noch eine andere Form von Gewalt, die den Willen des Menschen negiert und ihm etwas aufzwingen will, ist mit den eindeutigen Versen des Qur’an vereinbar. Im Heiligen Qur’an wird der Begriff „al-harb“, d. h. „der Krieg“, viermal benutzt, und in allen vier Fällen wird es als ein hässliches Wort erwähnt. Wie könnte der Qur’an den Krieg für „heilig“ erklären?! Wie könnte man Cihad“, das ein Hauptprinzip und ein Pfeiler des qur’anischen Gedankens ist, als „heiliger Krieg“ übersetzen und interpretieren?! Der Begriff Cihaderscheint mehr als dreißigmal im Qur’an, hat aber in keinem Fall die Bedeutung von Krieg, sondern beschreibt eine fortgesetzte Anstrengung, seine Fähigkeiten und Möglichkeiten zum Handeln zu nutzen.

„Heiliger Krieg“?!

Wenn der Begriff „Krieg“ im Qur’an nur viermal und zudem in einem negativen Sinn verwendet wird, dann versteht es sich von selbst, dass auch der Ausdruck „heiliger Krieg“ keinen Platz im Qur’an hat; auch in keiner anderen islamischen Quelle hat Cihad“ diese Bedeutung. Dieser Ausdruck ist in jeder Beziehung nichtislamisch und aus einigen mittelalterlichen Ideen geboren.

Wenn mit „heiliger Krieg“ jedoch das gewalttätige und kriegerische Verhalten von einigen Anhängern und Gläubigen einer Religion gegen die Anhänger und Gläubigen einer anderen Religion gemeint ist, das von der Absicht getragen ist, den jeweils anderen die eigene Religion und den eigenen Glauben aufzuzwingen, so geht aus einer Vielzahl von qur’anischen Versen klar hervor, dass die Propheten Gottes und deren Anhänger im Laufe der Geschichte einem „heiligen Krieg“ in dieser Bedeutung ausgesetzt waren, denen Feinseligkeit und Gewalt von manchen Menschen und Gruppen widerfahren ist. Die Untersuchung dieser qur’anischen Verse zeigt, dass die Feinde der Propheten und deren Anhänger nicht immer Ungerechte waren, sondern dass manche dieser Feinde, die ihre Feindseligkeit auf die hässlichste Art und Weise zeigten, Anhänger einer früheren Religion waren, die eine neue Religion nicht ertragen konnten. Sie gebrauchten die gräulichsten Formen von Gewalt, um ihren Glauben anderen aufzuzwingen, und mittels Gewalt wollten sie die Menschen zwingen, wieder zu ihrem früheren Glauben zurückzukehren. Sie meinten, damit ihrer religiösen Pflicht zu genügen, und deshalb haben sie ihr Handeln als heilig bezeichnet. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese Gruppen aufgrund ihrer falschen Vorstellung von ihrer aus ihrer Sicht religiösen und heiligen Absicht gegenüber den Anhängern der anderen Religionen und Andersgläubigen die schlimmste Unterdrückung rechtfertigten und dieses Handeln als Zeichen tiefen Glaubens ansahen. Der Qur’an will dieses irrige Denken und diese falsche Vorstellung aufzeigen, und erklärt deshalb die Tat dieser Menschen als „Unglauben“.

Ungeachtet dessen, ob diese Gewalttäter auch im theologischen Sinne ungläubig sind, d. h. mittels des Glaubens oder ihrer Behauptung, an Gott oder an eine bestimmte Religion zu glauben, ihren Unglauben zu rechtfertigen versuchen, sehen wir, dass gemäß unserer Argumentation und Begründung mit dem Qur’an selbst der Krieg im Qur’an mit aller Deutlichkeit in keiner Form verherrlicht, für heilig erklärt oder gerechtfertigt wird.

Aus qur’anischer Sicht ist Krieg das hässlichste Phänomen der Menschen, und wenn dieses unmenschliche und hässliche Phänomen im Namen der Religion und mit religiösen Absichten gerechtfertigt wird, oder gleichsam als Strafe gegen jene geführt wird, die eine andere Religion haben, wird die Hässlichkeit des Krieges ungleich offenbarer, und die qur’a-nische Sichtweise geht so weit, dass dies als Unglaube bezeichnet wird.

Nun mag jeder selbst urteilen, inwieweit diejenigen Recht haben, die behaupten, der Qur’an verteidige den Krieg, oder die ¹Jihad als „heiligen Krieg“ erklären oder im Namen des Qur’ans Gewalt anwenden und jeder, der einen anderen Glauben hat als sie selbst, als Feind ansehen: Inwieweit ist dieser Gedanke richtig und entspricht er der Wahrheit, und inwieweit stimmen diese Behauptungen mit der qur’anischen Lehre überein und gehen damit konform?

Oder wie sehr sind diese Behauptungen mit ihren persönlichen Meinungen und falschen Vorstellungen vermischt?!

Die außergewöhnliche Würde des Menschenlebens im Qur’an

Das erste, was der Krieg anvisiert, sind das Leben und die Existenz der Menschen. Jeder Mensch und jeder Gedanke, der Krieg als heilig erklärt und als ein Prinzip und einen Grundsatz betont, kann zweifellos dem Leben und der Existenz der Menschen nicht viel Wert beimessen. Wenn wir uns die Argumentationen und Rechtfertigungen der Kriegsbefürworter und Gewalttäter ansehen, die ihr gewalttätiges Verhalten und Tun aus ihrer Sicht am idealsten, schönsten und mit der größten Rechtfertigung darstellen, stellen wir fest, dass sie ihr eigenes Leben und Sein gegenüber dem Leben und der Existenz der anderen Menschen bevorzugen. Wenn also jemand oder eine Gruppe von Menschen dem Leben der anderen Wert beimisst, sieht dieser Mensch oder diese Gruppe es als Pflicht an, das Leben der anderen zu bewahren und sich darum zu bemühen, das Leben der anderen zu schützen. Solche Menschen können nicht gleichzeitig den Krieg wählen und für heilig erklären. Aus dem Qur’an ist klar ersichtlich, dass das Leben und die Existenz der Menschen nicht nur sehr wertvoll und geehrt ist, sondern auch als heilig erklärt wird. Mit heilig ist hier diese Wahrheit im Sinne eines Zieles, für die andere Tätigkeiten eingesetzt werden, gemeint. Es versteht sich von selbst, dass man sich für den Schutz und Erhalt von einer Sache oder irgendetwas, das als wertvoll angesehen wird, einsetzt und darum bemüht ist, Schaden davon abzuwenden; das bedeutet jedoch nicht, dass dies zum Ziel des gesamten Bemühens aller Menschen erklärt wird. In diesem Fall sehen wir jedoch, dass das Leben des Menschen nicht nur zu einem Wert erklärt wird, sondern dass es als etwas Heiliges vorgestellt wird, d. h. der Wert des Menschenlebens ist so groß, dass das gesamte Engagement und Handeln der Menschen davon abhängt und dafür eingesetzt wird, dieses Ziel zu erreichen. Deshalb muss man auf viele Dinge und Taten verzichten, um diese heilige Angelegenheit zu schützen, und man muss sich gleichermaßen um viele Taten bemühen, die die Fortsetzung dieser heiligen Angelegenheit gewähren. Nun wird deutlich, warum die Behauptung, Krieg sei aus qur’Ánischer Sicht „heilig“, niemals richtig sein kann, wenn man bedenkt, dass der Qur’an das Leben und die Existenz des Menschen nicht nur als wertvoll, sondern sogar als eine heilige Angelegenheit bezeichnet. Einer der eindeutigen (mohkam) Qur’an-verse, d. h. einer der Verse, auf dessen Grundlage andere Verse erklärt und interpretiert werden, ist der nachfolgende Vers: „Jeder, der außer zur Verteidigung oder um Verderbnis auf der Erde zu verhindern einen anderen Menschen tötet, hat zweifellos alle Menschen getötet. Und jeder, der einem Menschen das Leben rettet, hat zweifellos allen Menschen das Leben geschenkt.“ (Sure 5, Vers 32), der einige wichtige Punkte aufweist:

1. In diesem Vers wird in schönster Form der Grundlage aller Widersprüche der Boden entzogen, indem der gemeinsamen Wahrheit und Identität aller Menschen Vorrang beigemessen wird, denn die Menschen werden in diesem Vers nicht als Einzelwesen beschrieben, die sozusagen von einem Körper getrennt sind, sondern diese qur’anische Sicht betont die eine und gemeinsame Identität aller Menschen.

Das Menschsein ist eine allgemeine Wahrheit, in der es keine Diskriminierung und Differenzierung gibt. Ein Individuum ist als ein Mensch kein Teil der Wahrheit des Menschseins, sondern diese Wahrheit ist vielmehr in jedem Menschen vollkommen vorhanden. Jedes Individuum, das als Mensch bezeichnet wird, gilt als ein Symbol dieser Wahrheit. Gemäß dieser Logik sagt der Qur’an, dass das Töten eines Individuums nicht nur eine bestimmte Person betrifft, sondern vielmehr der Vernichtung des Menschseins gleichkommt, und da das Menschsein die gemeinsame Identität aller Menschen ausmacht, kommt die Tötung eines menschlichen Individuums der Tötung aller Menschen gleich.

Es soll nicht außer Acht gelassen werden, dass Gott in diesem Vers nicht sagt, dass die Tötung eines Menschen wie die Tötung aller Menschen ist, sondern vielmehr sagt Er, die Tötung eines Menschen ist gewiss und ohne jeglichen Zweifel die Tötung aller Menschen. Natürlich existieren die anderen Menschen weiter, wenn ein Mensch getötet wird, aber wenn man z. B. bedenkt, dass das Sonnenlicht, das durch verschiedene Öffnungen dringt, kein Teil des Sonnenlichts ist, sondern dass alle Sonnenstrahlen, gleich durch welche Öffnung sie fallen, eine Wahrheit haben, und diese Wahrheit lautet, dass sie das Licht der Sonne sind und nicht ein Teil der Sonne, auch wenn sie aufgrund äußerer Ursachen (z. B. ein Fenster) geteilt wurden. Die Wahrheit, dass dies das Licht der Sonne und ungeteilt ist, ist gewiss. Deshalb soll man jeden Sonnenstrahl als Symbol für die Sonne und nicht als einen Teil von ihr sehen.

Jedes menschliche Individuum, das getötet wird, ist ein Symbol für die verloren gegangene Menschheit insgesamt, auch wenn aus gesellschaftlicher Sicht eine Person oder ein Mitglied der Gesellschaft weniger vorhanden ist. In einem anderen Qur’anvers wird das Töten eines Menschen absolut verboten, und es wird anstatt „ihr sollt euch nicht gegenseitig umbringen“ gesagt, „ihr sollt euch nicht töten“. Deshalb stellt das Leben aller Menschen gemäß der qur’anischen Logik eine einheitliche Identität und Wahrheit dar, und wenn jemand einen anderen tötet, hat er in Wahrheit sich selbst umgebracht.

2. Weiter geht aus diesem Vers hervor, dass diese Angelegenheit nicht einseitig ist, d. h. das Nichtsein einer Person wird nicht nur gleichgesetzt mit der Nichtexistenz aller Menschen, sondern diese Gleichheit wird auch mit dem Sein in Verbindung gebracht in dem Sinne, dass das Leben eines Menschen mit der Existenz und dem Leben aller Menschen gleichgesetzt wird. Als Ergebnis können wir festhalten, dass es nicht reicht, das Leben eines Menschen nicht zu gefährden, sondern vielmehr muss man darum bemüht sein, das Leben eines Menschen zu retten.

3. Das Menschsein an sich, und keine anderen Aspekte wie z. B. Geschlecht, Rasse, Sprache, Glaube usw., wird in diesem Vers in aller Klarheit als Ursache für die Rechte des Menschen und die Nutzung der Möglichkeiten der Existenz genannt, und das ist ein allen Menschen gemeinsames und einheitliches Recht. Die anderen genannten Aspekte haben Einfluss auf das Prinzip der Menschlichkeit und des Menschseins und können deshalb keine Wirkung im Hinblick auf die Nutzung der natürlichen Rechte des Menschen haben. Seine Rechte beziehen sich auf seine Natur und sein Wesen, und das ist allen Menschen gemeinsam und für alle identisch.

4. Ein wichtiger Punkt ist die Bezugnahme der qur’anischen Aussage auf die gemeinsame und einheitliche Identität aller Menschen. Damit wird die Wurzel aller Widersprüche, von Zwietracht, Überlegenheitsgefühl, Feindseligkeit, Gewalttätigkeit, Hass und Feindschaft ausgetrocknet. Gemäß dieser qur’anischen Logik ist der Andere, bevor er als ein Anderer und Fremder wahrgenommen wird, ein Bekannter, und zwar er selbst. Der Andere und ich sind wie Abbildungen einer Wahrheit oder eine Person, die sich in verschiedenen Spiegeln sieht. Feindschaft mit anderen bedeutet Feindschaft mit sich selbst. Wenn man den Spiegel zerbricht, hat man sich selbst zerbrochen. Deshalb wird im islamischen Denken die Vervollkommnung des Menschen so definiert, dass der Mensch sich so weit entwickelt, dass er seine individuellen und persönlichen Vorteile zugunsten der Wahrheit der Menschlichkeit vernachlässigt. Dann wird selbst ein sehr egoistischer Mensch anderen gegenüber netter und selbstloser sein, weil sein Ich mit dem anderen Ich eins geworden ist. Eine solche Sichtweise hat eine psychische und innere Wurzel, die jede Art von Feindschaft und Gewalt zwischen den Menschen beseitigt, denn wer einem anderen Schaden zufügt, hat sich selbst
Schaden zugefügt. Gefälligkeit, Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit den anderen gegenüber stellen die tiefsten inneren Neigungen des Menschen zufrieden und bewirken innere Ruhe.

5. Eine Besonderheit dieses Verses besteht darin, dass diese Empfehlung als ein vollkommenes und endgültiges Gesetz erörtert wird. Nicht unerwähnt bleiben darf, dass das Verstehen und Interpretieren der Qur’an-verse die Berücksichtigung der anderen Verse bedingt. Es kommt durchaus vor, dass ein Gebot in einem Vers festgelegt und in einem anderen Vers vervollständigt wird, oder dass ein Gebot in einem Vers allgemein und grundsätzlich erklärt wird, während in einem anderen Vers gewisse Ausnahmen dafür genannt werden. So ist es möglich, dass wir einem Vers zunächst eine bestimmte Bedeutung entnehmen, dann aufgrund der Berücksichtigung der anderen Verse aber feststellen, dass diese anfänglich verstandene Bedeutung nicht gemeint und die Absicht Gottes eine andere ist. Deshalb muss man hinsichtlich vieler Bedeutungen, die man verschiedenen Qur’anversen zunächst entnimmt, berücksichtigen, ob diese Bedeutung direkt und aufgrund der wortwörtlichen Aussage dieses Verses entnommen wurde, oder auf der Untersuchung der damit zusammenhängenden anderen Verse gründet. Selbstverständlich kann man bei einer solchen Angelegenheit sein Urteil nicht auf die anfängliche Bedeutung gründen und dieses dem Qur’an zuschreiben.

Es gibt jedoch bestimmte Verse im Qur’an, die eine konstante Bedeutung haben, die direkt und endgültig verstanden wird. Sie gehören zu den eindeutigen (mohkam) Versen, die der Qur’an mit aller Deutlichkeit als Grundlage für die Interpretation der anderen Verse vorsieht, und die selbst nicht mittels anderer Verse erklärt werden müssen. (Dieses Thema bedarf einer eigenständigen Fachdiskussion, die bei einer anderen Gelegenheit geführt werden soll).

Nun muss man sehen, zu welcher Gruppe der hier diskutierte Vers gehört. Gehört er zu den Versen, deren endgültige Bedeutung erst später im Kontext anderer Verse verstanden wird, oder ist es ein Vers, dessen anfänglich erfasste Bedeutung gewiss und konstant ist? Unter Berücksichtigung der Besonderheit dieses Verses, muss man ihn den Versen der zweiten Art zurechnen, d. h. es gibt keine Ausnahmen für ihn, denn in diesem Vers wird ein vollkommenes Gesetz erörtert. Mit vollkommenem Gesetz ist ein Gesetz gemeint, das auch die Ausnahmen berücksichtigt hat. Wenn ein Redner, Schriftsteller oder Gesetzgeber seine Meinung im Zusammenhang mit einem Thema erörtert, wird er dieses Thema erklären und seine Ausnahmen erwähnen, weil er die Absicht hat, dass alle Unklarheiten bezüglich seiner Aussage beseitigt werden. Aus diesem Grund erwähnt er alles, was im Zusammenhang mit diesem Thema nötig ist. Deshalb kann man sicher sein, dass man aus seinen Worten seine Absicht vollkommen verstehen und herauskristallisieren kann. Wenn der Sprecher Gott ist, dann kann man dieses Ziel mit noch größerer Gewissheit erreichen.

In diesem Vers hat Gott die Bedeutung und Heiligkeit der menschlichen Existenz erwähnt und dabei zwei Ausnahmen grundsätzlicher Natur genannt, nämlich die Verteidigung des Lebens der anderen und die Beseitigung von Verderbnis auf der Erde. Das sind die Ausnahmen, die Gott im Hinblick auf dieses grundsätzliche Gesetz (das den Gipfel der Heiligkeit der Existenz und des Lebens des Menschen darlegt) erklärt. Das bedeutet, dass das Leben des einzelnen Menschen ungeachtet seines Glaubens, seiner Rasse, Nationalität und Sprache so heilig ist, dass dieses Leben dem Leben aller Menschen entspricht. Das Leben eines Menschen verliert seinen Wert, wenn es dazu benutzt wird, das Leben anderer Menschen zu vernichten oder zu gefährden.

Bei einer genauen Betrachtung stellen wir fest, dass diese zwei Ausnahmen eigentlich gar keine Ausnahmen darstellen, sondern vielmehr den Schutz und die Fortsetzung der Existenz und des Lebens der Menschen gewährleisten sollen. Deshalb kann man zu diesem Ergebnis gelangen, dass für die Heiligkeit des Lebens aus qur’anischer Sicht keinerlei Ausnahme vorgesehen ist.

6. Der diskutierte Vers folgt unmittelbar auf die Verse, die die Geschichte des ersten Mordes in der Menschheitsgeschichte (an Abel durch Kain) beschreiben. Deshalb wird am Anfang sozusagen das Ergebnis festgehalten: „Wir haben für die Bani Israel bestimmt, dass jeder Mensch, der einen anderen Menschen tötet…“ Hier sehen wir, dass
Gott dieses Gebot als eine endgültige
Sunna und ein Gesetz in der Menschheitsgeschichte erörtert, und die Erörterung im Qur’an bedeutet, dass
dieses Gebot weiter existiert und sich die Heiligkeit der Existenz im Laufe der Geschichte niemals ändern wird.

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