Die Bedeutung von Recht und Ethik in der Gesellschaft

Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen.
Lobpreis sei Allah, dem Gepriesenen und Erhabenen, dem Herrn der Welten, und Sein Frieden und Segen sei mit unserem Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm), seinen reinen Nachkommen (Friede sei mit ihnen) und seinen rechtschaffenen Gefährten.

Im Denken des heutigen Menschen und in der modernen Zeit kommt dem Recht ein besonderer Stellenwert zu, und die Betonung des Rechts ist ein wesentlicher Wert dieser Epoche in der menschlichen Gesellschaft. Die universale Deklaration der Menschenrechte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt die wichtige Bedeutung dieser Angelegenheit aus der Sicht der heutigen Welt.

Und es verdeutlicht zugleich das höchste Ziel und Ideal, das die Weltgesellschaft erstrebt. Kurz gesagt kann man feststellen, dass die Berücksichtigung der Menschenrechte das größte Ideal und Ziel der heutigen Welt ist, d. h. die Gestaltung einer vom Recht geprägten Gesellschaft. Wenn wir von Recht reden, müssen wir notwendigerweise auch von Pflichten reden, denn aus den Rechten eines jeden Menschen resultieren Pflichten, die im Hinblick auf die anderen berücksichtigt und geachtet werden müssen.

Die Gleichheit der Rechte für alle und die Erwartung, dass alle diese Rechte berücksichtigen, sind zwei Hauptelemente des Gerechtigkeitsbegriffes. Deshalb ist ein Rechtsstaat d. h. eine Gesellschaft, in der das Recht aller Gruppierungen und Schichten berücksichtigt wird, eine gerechte Gesellschaft, und zweifellos ist die Etablierung von Gerechtigkeit und die Schaffung einer solchen gerechten Gesellschaft eines der wichtigsten Ziele und einer der größten Wünsche der Menschen. Die Bildung einer solchen Gesellschaft, in der Gerechtigkeit herrscht und in der für alle gleiche Rechte gelten, ist die wichtigste Aufgabe aller göttlichen Propheten, und auch Prophet Muhammad () hat sich für die Fortsetzung dieser göttlichen Aufgabe engagiert. In einem ersten Schritt hat er versucht, den frevelhaften Geist und die Gier des Menschen zu Gerechtigkeit aufzurufen und hat eine gerechte Gesellschaft begründet. In diesem Sinne heißt es im Qur’an auch in aller Deutlichkeit (vgl. Sure aÊ-ÉÚr¢, Vers 15), dass dem Propheten geboten wurde, gerecht zwischen den Menschen zu richten.

Aber es bleibt die wichtige Frage, ob Gerechtigkeit die höchste Botschaft von Mohammad (s.a) ist, und ob die Gründung einer gesellschaftlichen Rechtsordnung sein Endziel ist? Ungeachtet der besonderen Bedeutung, die der Prophet des Islam der Gerechtigkeit und Berücksichtigung der Rechte beimaß, muss man aber mit aller Deutlichkeit sagen, dass die Erziehung eines gerechten Menschen und die Gründung einer gerechten Gesellschaft, in der das Recht berücksichtigt wird und die Menschen gerecht miteinander umgehen, und jeder dem anderen gegenüber das gleiche Recht hat, nicht das Endziel von Mohammad (s.a) war. Er selbst hat in aller Deutlichkeit sein Endziel so erläutert:

„Ich bin von Gott entsandt worden, damit ich die Moral vervollkommne.“

Folglich sind der gerechte Mensch und die gerechte Gesellschaft nicht das letzte Ideal des Propheten des Islam, sondern sein Endziel war die Erziehung eines moralischen Menschen und einer moralischen Gesellschaft.

Das Verhältnis und der Unterschied zwischen Recht und Moral ist ein Thema, das eines ausführlichen Vortrages bedürfte, wollte man es umfassend behandeln, und wenngleich wir dies in dieser Ansprache nicht tun wollen, seien zumindest einige Unterschiede zwischen diesen beiden Begriffen in aller Kürze erwähnt. Die Kontrolle der Gier des Individuums und das Verhindern von Ungerechtigkeit und Missachtung der Rechte der anderen in der Gesellschaft sind das höchste Ziel der Gerechtigkeit und einer Rechtsordnung. Mit der Verwirklichung dieses Zieles können diejenigen, die nach Gerechtigkeit streben und Anhänger der Menschenrechte sind, ihre höchsten Ideale erreichen.

Für die Verwirklichung dieses Zieles muss zwischen den Menschen nicht notwendigerweise Freundlichkeit und Liebe herrschen, sondern man kann von den Menschen verlangen, dass sie die Gesetze und Prinzipien die ihre Rechte schützen, wahrnehmen und als verbindlich ansehen, auch wenn die Beziehung zwischen ihnen selbst eher kühl und teilnahmslos ist. Ein gerechter Mensch muss nicht unbedingt ein freundliches Gesicht und einen freundlichen Umgang haben. Das Recht und die Gerechtigkeit verlangen jedoch, dass ein Bürger dem Gesetz und den Prinzipien treu ergeben und dass er letztlich ein gerechter Mensch ist. Aber es wird diesem Bürger nicht befohlen, wenn er in seiner Nachbarschaft oder in der Straße, in der er lebt, oder auch außerhalb des Landes, in einem anderen Teil der Welt, einem bedürftigen Mensch begegnet, diesem zu helfen und ihn zu unterstützen.

Der gerechte Mensch erwartet, dass ihm sein Recht in der vereinbarten Zeit zugestanden wird, und wenn das nicht der Fall ist, sieht er sich berechtigt, den anderen anzuklagen und ihn verurteilen zu las-sen, ohne dass er es zuvor als notwendig ansieht, zu überprüfen, ob der andere die Möglichkeit hat oder nicht, ihm sein Recht zuzugestehen, und auch wenn er damit den Frieden dieser Familie stört. Gerechtigkeit und Recht gebieten in einem solchen Falle nur, dass die Zahlung das Recht des Anspruchstellers und die Pflicht des Schuldners ist, auch wenn Kläger und Schuldner Vater und Sohn sein sollten. Wenn aber der Kläger seinen Möglichkeiten entsprechend die Probleme und Unfähigkeit des Schuldners zur Zahlung berücksichtigt, auch wenn der Kläger ein vermögender Mensch und der Schuldner ein armer Mensch ist, und er als Kläger auf sein Recht verzichtet, dann ist das dennoch kein Element, das vom Recht und dem Gerechtigkeitsprinzip geboten wird.

Die Moralität hingegen berücksichtigt vor allem die Aspekte, die auf Recht und Gerechtigkeit ausgerichtet sind und wird das Recht und die Gerechtigkeit niemals verneinen. Die Moralität lehrt, dass es sehr angesehen und wertvoll ist, die Rechte der anderen zu berücksichtigen und seine eigenen Rechte einzufordern, dass es aber noch schöner und angesehener ist, wenn man zum Vorteil der anderen darauf verzichtet. Folglich sind Verzeihen und Freigebigkeit moralische und keine rechtlichen Prinzipien.

Die Gerechtigkeit basiert auf der Berücksichtigung der Rechte der anderen. Ein gerechter Mensch wird das Recht der anderen nicht missachten und ungerecht werden, und er wird den anderen nicht mehr zugestehen, als es deren Recht entspricht. Aber die Moralität basiert auf Liebe, Freundlichkeit und Freundschaft gegenüber den anderen und nimmt folglich Einfluss auf das Einfordern von Rechten. Das Recht sagt, dass man die die Möglichkeit hat, unter Berücksichtigung von Achtung und Höflichkeit sein Recht einzufordern. Aber die Moralität sagt: Wenn man sein Recht einfordert, soll man nicht nur die Achtung und Höflichkeit wahren, sondern darüber hinaus auch die psychische und physische Situation des anderen berücksichtigen. Deshalb ist jeder moralische Mensch zugleich auch ein gerechter und dem Recht verpflichteter Mensch. Aber umgekehrt muss nicht jeder gerechte und dem Recht verpflichtete Mensch auch ein moralischer Mensch sein. So gesehen wird die Ethik das Recht nicht nur nicht verneinen, sondern den Menschen vielmehr bereichern und auf eine höhere Ebene führen. Vielleicht ist es zutreffender, wenn wir sagen, dass Gerechtigkeit und Ethik auf Recht basieren.

Aber das Recht, das die Moralität betont, geht über das Recht, das die Gerechtigkeit betont, hinaus. Der moralische Mensch beweist mit dem Blick der Liebe und Freundlichkeit den anderen ein ungeschriebenes Recht, dass im Buch des Gesetzes und der Gerechtigkeit selbst nicht unbedingt berücksichtigt werden muss. Die Freigebigkeit der Mutter gegenüber ihrem Kind resultiert nicht aus einer rechtlichen Pflicht, sondern weil die Mutter ihr Kind liebt, wird sie diese Freigebigkeit für sich als notwendig ansehen und sich verpflichtet fühlen, dem Kind gegenüber freigiebig zu sein. Wenn sich diese Sichtweise allgemein unter den Menschen verbreitet, werden die Menschen einfach und problemlos auf ihr Recht verzichten, und das ist die eigentliche und wesentliche Botschaft Mohammads (s.a) für die Menschheit. Mohammad () sagt, dass alle Menschen gleiche Rechte haben, egal welche Glaubensrichtung, Farbe und Rasse sie haben, und dass jede Ungerechtigkeit zwischen den Menschen verurteilt wird. In einer schönen und genauen Erklärung und Interpretation hat er diese Gleichheit der Menschen vor dem Gesetz mit einem Kamm verglichen, der gleiche Zähne hat. Auch im Qur’an wird oft betont, dass die Menschen von einem wertvollen Wesen erschaffen wurden und kein Mensch aufgrund seiner Rasse, Farbe, Sprache oder Nationalität mehr Rechte und Vorteile gegenüber den an-deren genießt (vgl. Sure an-Nisa’, Vers 1, Sure az-Zumar, Vers 6 oder Sure al-¼uºur¢t, Vers 13). Mohammad (s.a) hat jegliche Art von Rassismus negiert und gleiche Rechte für alle Menschen jeder Rasse, Sprache und Religion betont:

„O Leute, ihr sollt wissen, dass Gott einer ist, und dass euer Vater einer ist. Deshalb soll euch bewusst sein, dass keine Rasse gegenüber einer anderen Rasse, kein Araber gegen-über einem Nichtaraber, kein Nichtaraber gegenüber einem Araber, kein Schwarzer gegenüber einem Weißen und kein Weißer gegenüber einem Schwarzen einen Vorzug hat.“

Der Qur’an erwähnt, dass die Menschen aus einer einzigen Substanz geschaffen wurden, und das be-weist nicht nur die Gleichheit der Menschen und ihren Anspruch auf die gleichen Rechte, sondern da-rüber hinaus wird damit auch das Gefühl der Gemeinsamkeit und des Verständnisses zwischen den Menschen erwähnt. Dieses Gefühl der Gemeinsamkeit und Freundschaft ist ursächlich für die Freundlichkeit und Liebe der Menschen zueinander. Mohammad (s.a) hat dieses Gefühl der Gemeinsamkeit in einem klaren Bild verdeutlicht, wonach die Menschen wie die Glieder eines Körpers sind, der leidet, wenn eines seiner Glieder Schmerzen hat.

Deshalb ist in der Logik von Mohammad () die Beachtung des Rechts und der Gerechtigkeit in den Beziehungen der Menschen zueinander nicht das Ende dieses Weges, sondern Recht und Gerechtigkeit bilden die Brücke, über die man zu der Gesellschaft gelangt, in der es keine Feindschaft und Gewalt gibt, sondern wo Liebe und Freundlichkeit herrschen. 

Die moralische Gesellschaft, in der die Beziehung zwischen den Menschen nicht auf trockenen Pflichten und offiziellen Rechten, sondern auf Freundlichkeit und Nächstenliebe basiert, ist eine Gesellschaft, in der die Menschen das Erreichen von mehr Vorteilen nicht als ein Zeichen des Erfolges ansehen, son-dern die Hilfe für die anderen, der Verzicht auf eigene Rechte und das Engagement für einen größeren Nutzen für die anderen als Zeichen des Erfolges und der Glückseligkeit gelten. Mohammad (s.a) hat sehr viel von Frieden gesprochen, und der Qur’an sagt mit aller Deutlichkeit, dass Frieden besser ist als jede andere Sache. Das ist eine besondere Beschreibung im Qur’an, der sich über kein anderes Thema so deutlich geäußert hat. Man muss wissen, dass ein Frieden, von dem der Qur’an spricht und den der Prophet des Islam als großer moralische Lehrer seine Anhänger lehrt, mehr Bedeutung impliziert als Frieden im rechtlichen Sinne. Frieden im rechtlichen Sinne steht Krieg und Feindschaft gegenüber; ein solcher Frieden, der auf die beste und vollkommenste Weise verwirklicht wird, dient der Bewahrung von Gerechtigkeit, d. h. er spricht beiden Parteien ihr gesetzliches Recht zu. Deshalb wird der Friede mit dieser Bedeutung niemals über die Gerechtigkeit gestellt.

Aber der moralische Frieden, d. h. Freigebigkeit und Verzicht auf das eigene Recht zum Vorteil der anderen geht weit über den rechtlichen Frieden hinaus. Moralischer Frieden ist ein freigiebiger Frieden, aber der rechtliche Frieden ist ein gerechter Frieden, und der Qur’an lädt die Menschen im Bereich der individuellen Rechte zu einem moralischen Frieden ein. Abschließend gesagt ist in der Ergänzung, Vorstellung, Lehre und Verbreitung von schönen moralischen Werten und Eigenschaften unter den Menschen das wichtigste Ziel und die wichtigste Aufgabe von Mohammad (s.a) zu sehen.

Zum Schluss möchte ich im Hinblick auf das Ende des Monats Scha’ban Ihnen und allen Muslimen zum bevorstehenden Anfang des Monats Ramadan gratulieren, und ich empfehle allen, den Wert dieser letzten Scha’bantage zu schätzen. Der Monat Scha’ban ist der Anfang für den Eintritt in den Monat Ramadan, und man soll die verbliebene Gelegenheit für eine bessere Vorbereitung auf die Segen des Monats Ramadan nutzen. Denn der Monat Ramadan heißt, dass wir bei Gott zu Gast sind, und es ist nur natürlich, dass man sich für ein wichtiges Fest mit einem wertvollen und großartigen Gastgeber weitaus besser und intensiver vorbereitet. Die Lehren des Propheten und der religiösen Vorbilder be-schreiben die zwei vorherigen Monate, d. h. Radschab und Scha’ban als eine Einleitung für die Vorbereitungen und das Eintreten als Gast bei Gott im Monat Ramadan. Möge Gott, der Erhabene, uns die Möglichkeit gewähren, dass wir uns der Tatsache bewusst sind, dass wir in diesem gesegneten Monat zu Gast bei Gott sind.

Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.

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