Ein wichtiger Aspekt bei der Erörterung des Menschenbildes im Islam sind die einschränkenden Faktoren der Freiheit aus der inneren und äußeren Sicht, resp. des Gewissens und der Gesellschaft.

Auf der innerlichen Ebene wird die Freiheit nicht beschränkt, denn erst die Bedürfnisse und Wünsche des Menschen lassen die Freiheit erkennen und stellen somit per se keine Einschränkung dar. Ist dies aber auch auf die äußere oder gesellschaftliche Ebene übertragbar? Selbst die Vertreter der absoluten Freiheit räumen ein, dass die individuelle Freiheit auf gesellschaftlicher Ebene

nicht absolut und unbegrenzt sein kann, sondern durch das Gesetz und die Freiheit des Anderen eingeschränkt wird. Danach stößt die Freiheit an ihre Grenzen, wo die Freiheit des Anderen und die Bewahrung des Gesetzes gefährdet sind. Legen aber allein die Vorteile anderer diese rote Linie fest, oder darf man jemandem, der das Gesetz nicht verletzt und auch die Rechte seiner Mitmenschen nicht gefährdet, dennoch eine Missachtung der gesellschaftlichen Werte zugestehen?

Offensichtlich ist die soziale Freiheit nicht nur durch Gesetze oder den Nutzen der Anderen begrenzt, sondern es gibt darüber hinaus einen weiteren wichtigen Faktor im Hinblick auf die Identität und Existenz der Gesellschaft. Jede Gesellschaft setzt sich zwar aus Individuen zusammen, gewinnt ihre Identität und ihr Dasein aber auch aus ihrem historischen Bezugsrahmen, wird also von einem „Geist“ getragen, der sie von anderen Gesellschaften unterscheidet. Westliche und östliche Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur durch die Individuen, sondern auch durch den Geist, der in diesen Gesellschaften herrscht. Dieser „Geist“ speist sich aus Aktionen und Reaktionen und historischen Entwicklungen und Veränderungen auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene. Kulturelle und religiöse Traditionen, nationale Sitten und Gebräuche, die geographische und klimatische Lage usw. sind Dinge, die die Identität einer Gesellschaft beeinflussen. Diese Faktoren sind nicht leicht zu verändern, weil sie in einem historischen Prozess während vieler Jahre und Jahrhunderte entstanden sind, und auch die Individuen einer Gesellschaft können diese Faktoren nicht einfach missachten oder mittels Konsens verändern. Werturteile, geliebte oder verhasste Dinge in einer Gesellschaft gründen in dieser tradierten gesellschaftlichen Identität.

Der ehrwürdige Qur’Án unterscheidet Identitäten und Schicksale von Gesellschaften und sieht sie nicht nur als Ansammlung von Individuen an, sondern spricht jeder Gesellschaft eine Eigenständigkeit zu, die in einigen Fällen sogar den Willen und die Unabhängigkeit des Individuums beeinflussen kann. Ebenso wie der Mensch Aufgaben und Handlungen hat, die Belohnung oder Bestrafung bewirken, verfügt auch die Gesellschaft über einen bestimmten Handlungsradius, und die Handlungen jeder Gesellschaft erscheinen dieser Gesellschaft als schön (vgl. Sure al-Anam, Vers 108).

Jede Gesellschaft hat darüber hinaus ihre eigene Geschichte, und jede Gemeinde wird für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen werden (vgl. Sure al-diyat, Vers 28). Eine der wichtigsten „roten Linien“ der Freiheit besteht also darin, die Identität und Existenz der Gesellschaft nicht zu beeinträchtigen, d. h. eine Handlung, die zwar keinen Gesetzesverstoß und keine Rechtsverletzung darstellt, aber den Werten und der Identität einer Gesellschaft widerspricht, zu unterlassen. Gesellschaftliche Koexistenz impliziert die Verantwortung des Individuums für die gesellschaftliche Identität.

Auch viele liberale Philosophen, die den Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum bestätigen, wie z. B. John Stuart Mill, verbinden diese Einflussnahme seitens der Gesellschaft mit Verantwortlichkeit gegenüber der Gesellschaft seitens des Individuums. Und da die prägenden Werte einer gesellschaftlichen Identität wie bereits erwähnt differieren und verschiedene „roten Linien“ ergeben können, resultiert dies beispielsweise in einer orientalischen Gesellschaft, in der möglicherweise ein völlig anderer Geist herrscht als in einer okzidentalen Gesellschaft.

Der Islam vertritt die rationale These, dass jede Gesellschaft ihre eigenen Werte respektieren darf (vgl. Sure al-Anam, Vers 108), das Recht hat, ihren Werten treu zu bleiben und Gesetze zum Schutz ihrer Werte und Identität zu erlassen. Jeder, der einer Gesellschaft angehört, ist zur Achtung und Wahrung ihrer Gesetze verpflichtet. Selbstverständlich kann jeder Mensch auf der Grundlage der Meinungsfreiheit bestehende Werte und Traditionen kritisieren. Wenn er ihre Werte nicht mittragen kann, kann er seine Gesellschaft verlassen, aber er hat nicht das Recht, deren identitätsbildenden Werte zu verletzen, solange er ihren Schutz genießt. Die islamischen Lehren verpflichten jeden Muslim, für die Gesellschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen. So wie diese Gesellschaft seine Rechte schützt, ist auch der Muslim verpflichtet, die Regeln der Gesellschaft, in der er lebt, zu respektieren, auch wenn diese Gesellschaft nicht islamisch ist. Keinem Muslim steht es frei, Rechte, Gesetze und Werte einer Gesellschaft zu missachten, nur weil diese Gesellschaft nicht islamisch ist. Seine individuellen Rechte bieten ihm jedoch die Möglichkeit, alle Dinge zu vermeiden, die seiner Identität widersprechen. Wenn heute Muslime in einigen westlichen Gesellschaften gegen das Gesetz zum Verbot der islamischen Kleidung (hijab) protestieren, dann tun sie das nicht, weil sie die Gesetze und die Werte des Westens verletzen wollen, denn diese Gesellschaften haben das Recht, ihre gesellschaftlichen und historischen Identitäten zu bewahren und zu verteidigen. Wenn Säkularismus und Neutralität des Staates gegenüber Religionen zu den Hauptwerten des Westens gehören, sind wir als Muslime verpflichtet, diese Werte zu respektieren und nicht zu bekämpfen.

Wir respektieren die prinzipielle Trennung von Religion und Staat in dieser Gesellschaft, und zwar nicht aus taktischen oder politischen Überlegungen heraus, sondern aufgrund der den islamischen Lehren zugrunde liegenden Rationalität, die den Gläubigen verpflichtet, die gesellschaftlichen Verträge einzuhalten. Der Islam lehrt uns, das Recht jeder Gesellschaft auf Bewahrung ihrer Werte zu respektieren, und wer dagegen verstößt, hat nicht nur das Gesetz übertreten, was sanktioniert werden muss, sondern auch ein göttliches Gebot negiert. Wenn die Kleidung muslimischer Frauen tatsächlich die Gesetze und Werte mancher Gesellschaften verletzen sollte, dann müssen sich die Muslime meines Erachtens nach diesen Regeln richten.

Ich bin jedoch der Meinung, dass der Säkularismus nicht zwangsläufig mit einer negativen Einstellung zu den Religionen verbunden ist, sondern eine Neutralität gegenüber religiösen Glaubensinhalten impliziert.

Die Gesetze eines zivilisierten Landes wie Deutschland, das als Heimat der Philosophen und Denker gilt, haben es sich sogar zum Ziel gesetzt, die Anhänger aller Religionen bei der Ausübung ihrer Religion gleichermaßen zu unterstützen. Die Säkularität lässt dem Menschen sogar freie Hand bei der Wahl seiner Religion oder seiner Kleidung. Säkularität bedeutet keinesfalls, die Religionen zu leugnen, sondern verlangt von den Mitgliedern der Gesellschaft sogar, anderen keine bestimmte Meinung aufzuzwingen. Wenn also niemand den anderen Gesellschaftsmitgliedern seine religiösen Anschauungen aufzwingen darf, so darf im umgekehrten Fall auch den Gläubigen keine unreligiöse Lebensweise aufoktroyiert werden. Der säkulare Staat ist ebenso, wie er andere Rechte gewährleistet, verpflichtet, die Gläubigen bei der Durchführung ihrer religiösen Gebote zu unterstützen. Muslime und andere religiöse Minderheiten von der Ausübung ihrer religiösen Pflichten abhalten zu wollen stellt einen Eingriff in die Privatsphäre und im Endeffekt den Tod der Demokratie dar.

Gleiches gilt auf zwischenstaatlicher Ebene: Keine Gesellschaft darf einer anderen die eigenen Werte und historische Identität aufzwingen. Ebenso wie westliche Gesellschaften das Recht  auf Verteidigung ihrer Identität und Werte haben, muss dieses Recht auch islamischen und östlichen Gesellschaften zugestanden werden.

Das Individuum im gesellschaftlichen Kontext

Die Beziehung des Menschen zu seiner Gesellschaft wird von drei wesentlichen Faktoren definiert:

  1. Freiheiten von Individuum und Gesellschaft bei der Wahl von Handlungen und Verhaltensweisen.
  2. Trennung von privatem und öffentlichem Leben.
  3. Differenzierung zwischen dem Wahren und dem Legitimen.

Mit dem ersten Grundprinzip, der Betonung der individuellen und gesellschaftlichen Freiheiten, wird verdeutlicht, dass alles gute und schlechte Verhalten erst dann beurteilt werden kann, wenn es aus freiem Willen geschieht, d. h. aus den entsprechenden Freiheiten resultiert die Verantwortlichkeit für die Handlungen von Individuum und Gesellschaft. Wer zu einer guten bzw. schlechten Tat gezwungen wird, verdient keine Belohnung bzw. Bestrafung. Der Islam vertritt das rationale Prinzip, dass freier Wille und Entscheidungsfreiheit der Verantwortung zugrunde liegen; folglich entbehrt jedes auf Zwang und Unterdrückung basierende despotische Verhalten aller moralischen und ethischen Werte. Der Wert sowohl einer ethischen wie auch einer religiösen Tat beruht folglich darauf, dass der moralische und religiöse Mensch diese mit vollem Bewusstsein und aus freiem Willen ausführt. Jedes Individuum hat das Recht, sein privates Leben selbst zu bestimmen, und niemand darf sich in diesen Bereich einmischen. Die Verletzung der Privatsphäre kommt einer Aufhebung des individuellen Rechts auf Freiheit gleich. Entsprechend muss auch auf gesellschaftlicher Ebene alles Handeln auf dem Einverständnis der Mehrheit der Bevölkerung basieren, und niemandem steht es zu, der Gesellschaft seine persönlichen Überzeugungen aufzuzwingen, selbst wenn es sich hierbei um die tugendhaftesten und besten ethischen und religiösen Normen handelt, denn jegliche Aufoktroyierung impliziert  den Verlust des ethischen und religiösen Wertes.

Ebenso wie der Einzelne seinen persönlichen Bereich bestimmen kann, hat auch die Gesellschaft das Recht, die Art ihres Zusammenlebens zu wählen. Hier tritt die Trennung von privatem und öffentlichem Bereich in Kraft. Den islamischen Grundsätzen zufolge darf jedes Individuum nur über sein eigenes persönliches und privates Leben entscheiden, während die Entscheidung über die Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens bei der Mehrheit liegt. Keine Minderheit darf der Mehrheit etwas aufzwingen; die Minderheiten gleichen den Individuen, d. h. sie dürfen nur für sich selbst und ihre Angelegenheiten entscheiden. Den Willen der Mehrheit zu missachten oder zu verletzen ist unzulässig und ungesetzlich, auch wenn diese Minderheit von der Richtigkeit und Korrektheit ihrer Meinung überzeugt ist. Der Islam lehrt uns ungeachtet seines Wahrheitsanspruches und seiner Rationalität, dass niemand das Recht hat, unter Berufung auf die Wahrheit die Willensfreiheit eines anderen einzuschränken und dass wir selbst eine Gesellschaft mit säkularen und religösen Ansprüchen respektieren müssen und einer solchen Gesellschaft Religion und religiöse Gebote nicht aufgezwungen werden dürfen.

Hier haben wir es nun mit dem dritten der zuvor genannten Prinzipien zu tun, nämlich der Unterscheidung zwischen dem absoluten Wahrheitsanspruch und der Gesetzgebung. Aus islamischer Sicht muss respektiert werden, wenn ein Individuum oder die Mehrheit einer Gesellschaft nicht nach religiösen Grundsätzen leben will, denn die Wahrheit ist beständig und nicht nach individuellen oder gesellschaftlichen Ansichten veränderbar. Obgleich oftmals eine Diskrepanz zwischen der Wahrheit und den Wünschen der Mehrheit besteht, wäre ein erzwungenes Durchsetzen der Wahrheit unrechtmäßig. Hier gilt es, die Differenzierung des Islam zwischen dem Wahren und dem Legitimen zu beachten. Der Gültigkeitsanspruch des Wahren resultiert aus der erwiesenen Richtigkeit, der das Unwahre, das Falsche (bÁÔil) gegenübersteht. Etwas Wahres stimmt gemäß Logik und Realität mit der Wahrheit überein, so wie z. B. unsere Behauptung, dass die Erde um die Sonne kreist, mit der Wahrheit übereinstimmt. Die Meinung von Individuum oder Gesellschaft spielt bei dieser Wahrheit keine Rolle. Galilei war z. B. gezwungen, seinen Thesen abzuschwören, aber die Wahrheit dieser Thesen blieb bestehen. Trotzdem kann keine Religion, auch wenn sie den höchsten Grad an Wahrheit erreicht hat, mit Zwang durchgesetzt werden. Religiöse Gebote können nur dann als Gesetze formuliert werden, wenn die Mehrheit der Gesellschaft sich demokratisch dafür entschieden hat; ohne diesen demokratischen Konsens können selbst die Gebote der Scharia nicht als Gesetz angesehen und realisiert werden.

Dies verdeutlicht, dass die Religion der Demokratie nicht konträr gegen-übersteht, sondern dass sie vielmehr die konkrete Umsetzung der demokratischen Werte intendiert. Der Islam nutzt bei der Gestaltung der Gesellschaft nur demokratische Methoden und lehnt undemokratische Vorgehensweisen strikt ab; diktatorische Zwangsmaßnahmen sind „unislamisch“. Auch auf anderer Ebene stimmt der Islam mit der Demokratie überein: Gewohnheitsrecht und menschliche Vernunft sind zwei Hauptquellen bei der Rechtsfindung in gesellschaftlichen Belangen. Einerseits stützt sich der Islam auf die göttlichen Offenbarungen entnommene Grundlagen und Bestimmungen und sieht die Einhaltung ethischer und religiöser Bestimmungen im gesellschaftlichen Handeln als notwendig an, andererseits überlässt er die Festlegung vieler sozialer Bestimmungen dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft, wobei der Islam das Urteil der Gelehrten berücksichtigt; in diesem Sinne werden die Gesetze, die eine Gesellschaft aufgrund bestimmter Notwendigkeiten beschließt, bindend, sofern keine Einmischungen in die Privatsphäre der Menschen stattfinden und die persönlichen und religiösen Rechte der Individuen nicht verletzt werden. Gewohnheitsrechte dürfen nicht dazu führen, dass das Individuum seinen religiösen Verpflichtungen nicht nachkommen kann. Der Wert, den der Islam dem Gewohnheitsrecht und der menschlichen Vernunft beimisst, führt dazu, dass der Islam ewig und dauerhaft ist und nicht an die engen Grenzen von Zeit und Ort gebunden ist. Zusammenfassend können wir also festhalten, dass der Islam Demokratie und das Votum der Mehrheit respektiert und fordert.

Muslime beabsichtigen nicht, in einer Gesellschaft mit einer nichtmuslimischen Mehrheit einen „Staat im Staat“ zu bilden und die Bestimmungen dieses Staates zu missachten. Nach Ansicht vieler Theoretiker der Demokratie impliziert die Herrschaft der Mehrheit keine „Diktatur der Mehrheit“, in der die Rechte von Minderheiten missachtet und mit Füßen getreten werden dürfen. Einer der wichtigsten demokratischen Grundsätze besteht in der Wahrung der Rechte der Minderheiten und deren Praktizierung. Wer Minderheiten als Gefahr ansieht, irrt und entfernt sich weit von demokratischen Prinzipien. Die Präsenz von Minderheiten stärkt und festigt die demokratischen Grundlagen einer Gesellschaft.

Gedankenfreiheit

Nachdem wir uns bisher mit den politischen und gesellschaftlichen Freiheiten aus der Sicht des Islam beschäftigt haben, wenden wir uns nun einer der wichtigsten Freiheiten, nämlich der Gedankenfreiheit zu. Was bedeutet Denken? In einem einfachen Sinne meint es die rationale Betrachtung eines Gegenstandes, um diesen kennen zu lernen und Erkenntnis über ihn zu erlangen. Gemäß dieser Definition ist Denken ein Vorgang im Innern, d. h. im Geist und Gewissen des Einzelnen, und in diesem Kontext kommt der Diskussion über die Gedankenfreiheit keine besondere Bedeutung zu. Zweifellos kann jeder Mensch über jede Angelegenheit denken wie er will; niemand kann sein Denken beschränken. Der Islam verbietet deshalb, die Überzeugungen und Gedanken anderer auszuforschen und auszukundschaften und bezeichnet ein solches Verhalten als „haram“, d. h. als religiös verboten. Er verbietet jede Nachforschung und Bespitzelung in privaten Angelegenheiten, zu denen vor allem das Denken gehört (vgl. Sure al-hujurÁt, Vers 12).

Das Denken weist jedoch auch einen über die individuelle Ebene hinausgehenden gesellschaftlichen Charakter auf, denn das menschliche Bewusstsein reflektiert Informationen und Einflüsse von außen. Das soziale Verhalten des Menschen wird wiederum von seinem Denken bestimmt. Wenn wir also von der Gedankenfreiheit sprechen, meinen wir die Freiheit, Gedanken öffentlich zu äußern, was eines der wichtigsten Grundrechte darstellt. Der ehrwürdige Qur’an verweist in vielen Versen auf die Notwendigkeit der Gedankenfreiheit und spricht in diesem Kontext von zwei Gesellschaftsarten, der geschlossenen und unentwickelten bzw. der offenen und entwickelten Gesellschaft. Die geschlossene Gesellschaft kennzeichnen aus qur’ani-scher Sicht zum einen Stagnation im Denken und fehlende Rationalität und zum anderen tribale Strukturen und tradierte Nachahmung.

Stagnation des Denkens bedeutet dem Qur’an zufolge Zensur, Beschränkung des Denkens und Behinderung von Gedankenaustausch. Das zweite wichtige Charakteristikum einer geschlossenen Gesellschaft, die tribale Struktur, lässt die individuelle Identität völlig in der Identität der Gruppe oder des Stammes aufgehen, die sich ausschließlich über die Stammesführer und die Notabeln definiert; das Denken wird von früheren Generationen tradiert und das Individuum muss sich dieses Denken aneignen und danach handeln, d. h. Denken in seinem eigentlichen Sinne existiert überhaupt nicht, denn Nachdenken und logische Überlegungen werden durch Nachahmung ersetzt. Der fehlende Gedankenaustausch und die blinde Nachahmung kennzeichnen folglich auch jene, die sich der Einladung zum Glauben der Gesandten widersetzen, indem sie sich auf das Wissen ihrer Väter berufen (vgl. z. B. Sure al-Baqara, Vers 170 oder Sure al-Ma’ida, Vers 104).

Das Ergebnis dieser blinden Nachahmung ist die Bekämpfung aller Gedanken, die eine veränderte, neue Situation implizieren. Der Qur’an berichtet uns vom Kampf des Volkes gegen die neuen rechtleitenden Ideen des Propheten Noah (a.s.), indem es alles daran setzte, seine Gedanken zu bekämpfen. Dieses Volk wollte die neuen Ideen von sich fernhalten, so dass der Prophet letztlich Gott klagte, dass sie sich bei seinen Ermahnungen die Ohren zuhalten und sogar ihre Gewänder über sich ziehen, damit sie ihn nicht sehen und hören können.(Vgl. Sure Nuh, Vers 6).

Auch zu Zeiten des Propheten Muhammad (s.a.s.) wandten die Gegner verschiedene Methoden am, um die neuen Ideen zu verhindern oder zumindest einzuschränken. Sie wollten mit Störungen, Tumulten und Skandalen verhindern, dass die Offenbarung weder sie noch andere erreicht (vgl. Sure Fussilat, Vers 26).

Neben der geschlossenen Gesellschaft gibt es ein offenes, entwickeltes Gesellschaftssystem, dessen wichtigsten Merkmale Rationalität und freies Denken sind. Der Heilige Qur’an nennt als wichtigste Aufgabe der Propheten das Durchbrechen enger Grenzen und Schranken, damit sich die Gesellschaft von einer geschlossenen zu einer offenen rationalen entwickeln kann. Die Propheten riefen im Laufe der Geschichte die Menschen zu nichts anderem als dem Gebrauch ihres Verstandes auf. Auch wenn die Botschaften der Propheten augenscheinlich den Glauben an Gott und an das Verborgene hervorheben, laden sie dennoch alle zunächst zum Nachdenken ein. Glaube basiert zuerst auf Freiheit, die zum Glauben motiviert, und ferner auf Nachdenken und Ergründen. Das Fundament von Freiheit und freiem Willen sollte Erkenntnis sein, und diese Erkenntnis sollte in einer pluralistischen Atmosphäre erlangt werden, die Willen und Rationalität stärkt. Eine Gesellschaft mit Machtmonopolen und Absolutheitsansprüchen fördert nur blinde Nachahmung.

Zwischen Rationalität und Gedankenfreiheit besteht eine wichtige Verbindung. Der wichtigste identitätsbildende Faktor der Ratio ist die Fähigkeit, zu unterschiedlichen Themen eine kritische Haltung einnehmen zu können, was wiederum die Notwendigkeit verschiedener Optionen voraussetzt, aus denen man seine Wahl trifft. Pluralismus ist demnach die Grundvoraussetzung für rationales Denken und Rationalität. Wenn wir von religiösem Glauben sprechen meinen wir damit eine rationale Entscheidung, die in einer Atmosphäre der Gedankenfreiheit getroffen wird. Das inhärente Wesen des Glaubens steht der bloßen Nachahmung diametral gegenüber, und entsprechend beschreibt der Qur’an die Nachahmung als wichtigste Eigenschaft derjenigen, die sich den Propheten widersetzen. Aus diesem Grunde sind islamische Gelehrte der Meinung, dass jeder auf bloßer Nachahmung basierende Glaube wertlos ist.

Der Islam versucht, die Überlegenheit des monotheistischen Denkens in einer pluralistischen Kontroverse mit anderen Religionen und Weltanschauungen zu beweisen. Aus islamischer Sicht kann man nur durch eine kritische Gegenüberstellung verschiedener Ideen die beste herauskristallisieren. Erfolg und Glück der Gesellschaft können nur gewährleistet werden, wenn mittels Erkenntnis und Bewusstsein die beste Option ausgewählt wird. In diesem Sinne betont der Qur’an in Sure az-Zumar, Vers 18, die Notwendigkeit, sich verschiedene Ideen anzuhören und auf der Grundlage des Verstandes die beste von ihnen auszuwählen. Der Islam unterscheidet nicht zwischen einem gläubigen und einem rationalen Menschen, denn der rechtgeleitete Diener Gottes ist jener, der die Bedeutung des Nachdenkens anerkennt, sich alle Ideen anhört und dann die beste von ihnen auswählt und zwar in einer Atmosphäre, die ihm die Möglichkeit und Freiheit der Entscheidung und Wahl bietet.

In der heutigen Welt werden zwei Bilder vom Islam präsentiert, die sehr weit von der Wahrheit entfernt sind. Zum einen sehen wir bei Muslimen häufig ein Verhalten, das im Grunde mit den Lehren des Islam und des Qur’an nichts zu tun hat, und das oftmals auf tradierten Vorstellungen und Bräuchen beruht. Zum anderen wird eine vernünftige Verbreitung von Gedanken verhindert und es gibt keine Gedankenfreiheit. Dies führt zu dem besagten falschen Bild vom Islam. Hierzulande wird gerade dieses Bild als die „Wahrheit“ des Islam kolportiert. Der Islam wird als despotische Religion beschrieben, die jede Freiheit bekämpft und unterdrückt. Unserer Meinung nach ist der Islam eine Religion, die Freiheit propagiert und den Menschen befreien möchte, und in diesem Sinne kann jemand, der sich nicht bewusst und frei für den Glauben entscheidet, nicht wirklich als Muslim bezeichnet werden.

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