Der Mensch zwischen materieller Endlichkeit und immaterieller Endlosigkeit

Der Glaube an heilige Begriffe, wie z. B. Gott oder Engel, oder heilige Persönlichkeiten, wie z. B. die Propheten, heilige Handlungen oder Rituale, wie z. B. die Anbetungen, das heilige Wort, das z. B. in den himmlischen Schriften enthalten ist, oder heilige Orte, wie Mekka, und letztlich heilige Zeiten, wie der gesegnete Monat Ramadan oder die Nächte der Bestimmung (Laylatu-l-qadr), sind die grundlegenden Hauptelemente jeder Religion, die sich wie eine Achse um den Glauben an eine heilige Welt drehen.

Die wichtigste Frage, auf die jede Religion antworten muss, betrifft die Verbindung zwischen der heiligen Welt und der diesseitigen Welt, in der wir leben. Gibt es grundsätzlich eine Verbindung zwischen diesen beiden Welten? Wenn ja, welcher Art ist diese Verbindung? Diese Frage wird besonders wichtig, wenn die Rede von der heiligen Zeit ist.

Zeit ist ein gänzlich materielles und diesseitiges Phänomen, und darüber hinaus das wichtigste Merkmal und Symbol der Materie und des irdischen Lebens. Viele klassische Philosophen bedienen sich in ihrer Sprache des Begriffes „Zeitabhängigkeit“ wenn sie materielles und immaterielles (metaphysisches) Leben gegenüberstellen. Das bedeutet, die Zeitabhängigkeit ist die wichtigste Eigenschaft der diesseitigen materiellen Phänomene, und dieser Welt steht die heilige und metaphysische Welt gegenüber, die über der Zeit steht. Alle Dinge der materiellen Welt sind in der Gefangenschaft der Zeit, und es gibt nichts, was außerhalb der Zeit steht. Die Zeit ist ein Symbol und ein Merkmal der Veränderung, der Begrenztheit und Endlichkeit der Phänomene, und alles, was zeitabhängig ist, hat zweifellos einen Anfang und auch ein Ende. Alles hat an einem bestimmten Punkt in der Geschichte seinen Anfang und wird in einem bestimmten Zeitabschnitt sein Ende finden.

Ist der Mensch ein Wesen, das der Zeit unterworfen ist? Die Rede ist hier nicht vom Ursprung des Menschen, denn das ist ein eigenständiges umfangreiches Thema, aber es besteht kein Zweifel, dass der Mensch aus der Sicht der Religionen ein Phänomen ist, das nicht der Endlichkeit ausgesetzt ist.

Gemäß der Vorstellung der göttlichen Religionen entwickelt sich der Mensch während seines materiellen Lebens fort und vervollkommnet sich bis er zur Jenseitigkeit und Ewigkeit gelangt. Im Heiligen Qur’an wird wiederholt erwähnt, dass der Mensch Gott begegnen wird. Diese Begegnung impliziert, dass man die Grenze der Zeit überwindet und mit der Welt der zeitlichen Unbegrenztheit, d. h. der Ewigkeit, vertraut wird. Im Heiligen Qur’an wird dem Menschen gesagt:

„Du Mensch! Du strebst mit aller Mühe deinem Herrn zu und sollst Ihm begegnen.“ (Sure al-Inshiqaq, Vers 6).

Der Glaube an den Tag der Auferstehung und das Jenseits betont die Ewigkeit des Menschen. Deshalb ist der Mensch aus islamischer Sicht zwar im diesseitigen materiellen Leben ein der Zeit unterworfenes Geschöpf, aber sein Wesen ist nicht zeitabhängig und steht über der zeitlichen Begrenztheit (d. h. er gelangt in eine Welt, die nicht der Zeitlichkeit unterworfen ist). Letztlich wird jeder Mensch mit dem Tod sein überzeitliches Wesen erreichen, in der er von der Begrenztheit der Zeit frei wird. Daraus ergibt sich aus islamischer Sicht, dass der Tod nicht das Ende des Lebens ist, sondern nur das Ende der „Zeit“ bzw. des zeitabhängigen Seins, und dass mit dem Tod das ewige Leben beginnt. Ist es allein der Tod, der den Menschen die Welt der Zeitlosigkeit verstehen lässt?

Die Antwort auf diese Frage ist zweifellos negativ, weil der Mensch auch im diesseitigen Leben oftmals die Welt als zeit und ortunabhängig erlebt, wenngleich diese Erfahrungen von sehr kurzer Dauer und wenig intensiv sind; derartige Erlebnisse ereignen sich nicht im normalen materiellen Leben, sondern das, was man z. B. im Traum sieht, sind Geschehnisse, die über Zeit und Ort stehen. Das ist eine Erfahrung allgemeiner Natur, die uns die Unabhängigkeit von Ort und Zeit verdeutlicht und uns gleichzeitig erkennen lässt, dass das Verständnis von einer zeitlosen Welt nicht den Tod voraussetzt. Das ist eine der wichtigsten Botschaften der göttlichen Religionen und des Islam.

Aus islamischer Sicht kann der Mensch im materiellen Diesseits ungeachtet seiner räumlichen und zeitlichen Abhängigkeit auch Einblick in die Welt gewinnen, in der Zeit und Ort keine Rolle spielen, und kann dies in seinem Leben nutzen. Aber wie ist es möglich, dass der in diesem Leben der Zeitlichkeit ausgesetzte Mensch eine solche Verbindung haben kann?

Diese Frage beantwortet uns der Heilige Qur’an. Als erstes Argument wird angeführt, dass das Wesen des Menschen immateriell und folglich nicht der Zeit unterworfen ist. Der Mensch hat eine göttliche Identität, und Gott hat ihm von Seinem Geist eingehaucht (Vgl. al-Hijr, Vers 29). Deshalb ist sein Wesen ewig und nicht der Vernichtung ausgesetzt. Diese göttliche Gnade hilft dem Menschen, sich in seinem diesseitigen materiellen Leben von der zeitlichen Abhängigkeit zu befreien und diese sogar zu überwinden. Andererseits bezeichnet der Qur’an die Welt der Natur und ihre Phänomene als „ayeh“ oder „ayat“:

„Und zu Seinen Zeichen gehört die Schöpfung der Himmel und der Erde und jeglicher Lebewesen, die Er beiden eingegeben hat…“ (Sure al-shura, Vers 29).

Der Heilige Qur’an hat ferner die Zeit in aller Klarheit als „Áyeh“ bezeichnet und wiederholt werden darin der Tag und die Nacht als zwei „ayat“ Gottes bezeichnet:

„Und zu Seinen Zeichen gehören die Nacht und der Tag und die Sonne und der Mond…“ (Sure Fussilat, Vers 37).

„Und Wir machten die Nacht und den Tag zu zwei Zeichen…“ (Sure al-Isra’, Vers 12).

Was bedeutet „ayeh“?

In Qur’anübersetzungen wird der Begriff „Áyeh“ gewöhnlich als „Zeichen“ übersetzt. Aber diese Übersetzung gibt die genaue Bedeutung von „Áyeh“ nicht wieder. Die Verwendung des Begriffes „Zeichen“ ist zulässig, wenn beachtet wird, dass Zeichen nicht immer gleich sind. Manche Zeichen erlangen Gültigkeit aufgrund von Vereinbarungen, wie z. B. Verkehrszeichen, die sich auf eine bestimmte Thematik beziehen. In diesem Fall beruht die Verbindung dieses Themas mit dem Zeichen auf einer von Menschen getroffenen Vereinbarung; es gibt keine andere wesentliche und essentielle Beziehung im Hinblick auf sie, und folglich können sie durch neue Vereinbarungen auch wieder geändert werden. Ein Zeichen, das seine Bedeutung durch Vereinbarungen der Menschen gewinnt, kann durch neue Vereinbarungen oder im Laufe der Zeit eine neue und völlig andere Bedeutung erlangen oder sogar bedeutungslos werden und aus der Liste der Zeichen verschwinden.

Es gibt jedoch andere Zeichen, die eine enge und tiefe Beziehung und essentielle Verbindung mit ihrem Ursprung und Inhalt haben und untrennbar damit verbunden sind, wie z. B. Rauch, der ein Zeichen des Feuers ist. Die Gültigkeit des Zeichens „Rauch“ beruht auf keiner Vereinbarung, sondern es ist ein Zeichen, dessen reale tiefe und essentielle Verbindung mit dem Thema offensichtlich ist.

Alle diese Muster, Beispiele und Paradigmen führen uns zu einer Wahrheit, die nicht auf Vereinbarung beruht, sondern eine essentielle und wesentliche Beziehung und Verbindung zwischen diesen Zeichen manifestiert. Diese Verbindung ist zuweilen so stark und tief, dass die ursprüngliche Wahrheit auf das Zeichen reduziert werden kann. D. h. in diesem Fall ist die Essenz identisch mit ihrem Ursprung. In der arabischen Sprache werden für „Zeichen“ in der Regel zwei Begriffe gebraucht, nämlich erstens þalÁmat und zweitens Áyeh oder Áyat.

Der erste Begriff findet Anwendung für Zeichen der ersten Art, also z. B. Verkehrszeichen. Der zweite Begriff ist ein qur’Ánischer Ausdruck, der für Dinge verwendet wird, die gekennzeichnet sind von einer essentiellen und wesentlichen Beziehung und Verbindung. Wenn der Heilige Qur’an z. B. die Natur als „Áyat“ oder „Áyeh“ bezeichnet, ist damit nicht „alamat“ gemeint, sondern es ist die Rede von der Welt der Natur als einem Königreich und der Herrschaft in Relation zu der heiligen und himmlischen Welt und dem Reich Gottes, und die Grundlage dafür ist die enge Verbindung zwischen diesen zwei Welten.

Der Qur’an bezeichnet diese gegebene Beziehung zwischen beiden Welten als ein besonderes Zeichen Gottes. Somit gelangen wir zu dem Ergebnis, dass es aus qur’anischer Sicht keine Trennung gibt zwischen den beiden Welten, d. h. der Welt der Natur und der himmlischen Welt, und dass die Veränderungen in der himmlischen Welt folglich auf die natürliche Welt wirken.

Aus diesem Grund befasst sich ein großer Teil des Qur’an mit der Erkenntnis und Wahrnehmung dieser Beziehung, auf die die Menschen achten sollen. Der Qur’an lädt die Menschen wiederholt dazu ein, über die Zeichen Gottes nachzudenken. Dabei wird manchmal statt „denken“ und „nachdenken“ der Begriff „erwähnen“ oder „erinnern“ gebraucht. Die Erinnerung erlangt ihre Bedeutung, wenn etwas vergessen wird. Die Missachtung der Beziehung zwischen der himmlischen und der natürlichen Welt resultiert in Vergessen. Da diese Verbindung jedoch so deutlich und klar ist, dass jeder kluge Mensch sie mittels ein wenig Nachdenken erkennen kann, bezeichnet der Qur’an diese Entdeckung und Erkenntnis als „Erinnerung“, wie wenn man z. B. eine Seite einer Münze sieht und sich dadurch an deren Rückseite erinnert. D. h. jede Seite der Münze ist das Zeichen für die jeweils andere Seite.

Ein weiterer Begriff, den der Heilige Qur’an für die Beschreibung und Erklärung des Nachdenkens über die göttlichen Zeichen gebraucht, ist der Begriff „Lehre“ (ebrat). In diesem Sinne wird z. B. der Wechsel von Tag und Nacht als eine Lehre für die Wissenden verstanden. Die wortwörtliche Bedeutung von „þebrat“ ist das Zurücklegen einer Strecke, was mit Veränderungen einhergeht. Wenn sich ein Geschehen für einen Menschen wiederholt, dann erinnert er sich beim zweiten Mal, das ihm das Gleiche schon einmal passiert ist. Es ist nur natürlich, dass man beim zweiten Fall aus dem ersten Fall seine Lehren gezogen hat und man folglich besser vorbereitet ist. Im Deutschen wird für den Begriff „ebrat“ der Ausdruck „Lehre“ gebraucht, und Nachdenken ist das Ergebnis von solchen Lehren. Deshalb bezeichnet der Qur’an den Wechsel von Tag und Nacht z. B. als ein Zeichen Gottes und als eine Lehre für die Wissenden . Aus dieser Erklärung wird deutlich, warum dieser Begriff hier gebraucht wird. Der Qur’an bezeichnet das Nachdenken über die Welt der Natur als eine Seite der Medaille, deren andere Seite die himmlische Welt ist. Die Welt der Natur bezeichnet der Qur’an als die Welt der Schöpfung, die andere als die himmlische Welt. Die enge und untrennbare Beziehung zwischen beiden kommt in den Begriffen Diesseits und Jenseits zum Ausdruck. Das Diesseits erinnert an das Jenseits, und es ist erstaunlich, dass die enge Beziehung zwischen beiden mitunter nicht verstanden wird. Deshalb äußert der Qur’an Verwunderung über die Menschen, deren Bewusstsein vom Diesseits sie nicht zur Erkenntnis des Jenseits führt.

„Und ihr kennt doch gewiss die erste Schöpfung. Warum also wollt ihr euch nicht besinnen?“(Sure al-Waqia, Vers 62).

Der Monat Ramadan ist es, in dem der Qur’an als Rechtleitung für die Menschen herabgesandt wurde…“ (Sure al-Baqara, Vers 185) 

Das Original eines jeden Phänomens der natürlichen Welt ist in der himmlischen Welt vorhanden, und die natürlichen Lebewesen sind die reduzierte Form der vollkommenen Lebewesen, die in der anderen Welt sind.

„Und es gibt nichts, von dem Wir keine Schätze hätten; aber Wir senden es nur in bestimmtem Maß hinab.“ (Sure al-hijr, Vers 21).

Das Wort „Êay’” bedeutet „Sache”, und damit ist in diesem Vers jedes Phänomen gemeint, das auf der Erde vorhanden ist. Der Begriff „Schätze“ weist darauf hin, dass es von dem, was es auf der Erde gibt, in der himmlischen Welt noch mehr davon gibt. Was wir auf der Erde und in der natürlichen Welt sehen, ist nur ein Beispiel für die Schätze der himmlischen Welt. Im Heiligen Qur’an wird wiederholt betont, dass die himmlische Seite der Dinge der Herrschaft Gottes angehört:

„… in Dessen Hand die Herrschaft über alle himmlischen Dinge ruht…“ (Sure Ya Sin, Vers 83).

Diese Verse verdeutlichen, dass die Welt nicht auf die Welt der Natur beschränkt ist, sondern es gibt im Sein noch eine andere Welt, die vollkommener ist als diese, und diese beiden Welten sind nicht voneinander getrennt. Jede gute Tat, jede Schönheit und jede Freude in dieser Welt wird von der vollkommenen himmlischen Welt verursacht. Demnach ist unsere Welt im Vergleich zur himmlischen Welt neben dieser angeordnet und unmittelbar mit ihr verbunden.

Aus qur’anischer Sicht ist die Beziehung zwischen Diesseits und Jenseits also nicht nachgeordneter Natur, sondern vielmehr ist die Verbindung dieser zwei Welten von der Dimension der Breite und nicht von der Dimension der Länge bestimmt. Sie sind also nicht vergleichbar z. B. mit zwei Städten, von denen man zunächst die erste und dann die zweite erreicht, sondern sie sind wie Licht, dessen Intensität in verschiedenen Umgebungen unterschiedlich ist, wobei die schwächeren Lichtstrahlen nicht vom starken Licht getrennt sind und umgekehrt. Demnach liegt der Unterschied nicht im Wesen dieser Dinge, sondern in ihren Eigenschaften, d. h. man kann vom schwachen zum starken Licht gelangen. Das ist vergleichbar mit Kern und Schale: Mit der Schale hat man auch den Kern in der Hand, und wenn man die Schale beseitigt, gelangt man zum Kern. Es bedeutet aber nicht, dass man z. B. mit dem Erreichen der ersten Stadt gleichzeitig automatisch auch in der zweiten Stadt ist. Diese Beispiele sollen die besondere Sicht des Qur’an von der natürlichen und der himmlischen Welt verdeutlichen. Die Beziehung ist immer gegeben, und sie muss nicht hergestellt, sondern vielmehr vom Menschen entdeckt werden. Der Mensch soll darum bemüht sein, diese Beziehung zwischen den beiden Welten herauszukristallisieren, und Bewusstsein darüber zu entwickeln. Sein Bewusstsein resultiert in der Identität, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet. Je besser der Mensch diese Beziehung kennt und versteht, desto vollkommener kann er werden.

Aus qur’anischer Sicht wird der Mensch die tiefe Beziehung zwischen diesen Welten verstehen und kennen. Dies geschieht bei ihm erst nach dem Tod, wenn die materiellen Vorhänge beseitigt werden; dann kann er die Geheimnisse der Welt sehen und die himmlische Welt wird für ihn offenbar. Der Qur’an verweist darauf, dass der Mensch mit dem Tod die himmlische Welt erreicht. Die menschliche Gesellschaft wird am Ende der Geschichte, d. h. am Ende der materiellen Welt, nachdem der Mensch seine volle Kapazität erlangt hat und seine inhärenten Fähigkeiten in dieser Welt realisiert, daraus Nutzen ziehen. Das Leben im Diesseits wird ein Ende finden, weil seine weitere Vervollkommnung auf dieser Erde nicht möglich ist; in diesem Moment erscheint die vollkommene himmlische Welt, und das ist das Ereignis, das als Auferstehung bezeichnet wird.

Damit er dieses Bewusstsein erreicht, muss der Mensch nicht auf das Sterben warten, sondern er kann im Laufe seines Lebens mittels seines Willens einige der Vorhänge beseitigen. Diese Erkenntnis ist dem Menschen jederzeit möglich. Der Qur’an betont, dass jede Sache eine himmlische Seite hat , und er lädt alle Menschen ein, diese himmlische Seite der Erde und auch den Himmel zu sehen.

Der Qur’an verweist auf das Beispiel Abrahams (a.s.), der den Glauben an die Einheit Gottes begründete und die Wahrheit der Himmel und der Erde sehen konnte. Dies kann nur jemand erreichen, der fest an die Beziehung zwischen den beiden Welten glaubt und das Diesseits als Zeichen des Jenseits sieht. Aus diesem Grund hebt der Qur’an in aller Deutlichkeit hervor, dass für diejenigen, die die Zeichen Gottes außer Acht lassen, die Tore des Himmels nicht geöffnet werden , denn die Öffnung der himmlischen Tore setzt Vertrautheit mit der himmlischen Welt voraus.

Es trifft zu, dass die himmlische Welt mit der natürlichen Welt eng verbunden ist, aber diese Beziehung ist transzendenter Natur, d. h. der Mensch kann diese mit seinen gewöhnlichen Sinnen und materiellen Mitteln nicht erkennen. Deshalb spricht der Qur’an von der himmlischen Welt als dem „Verborgenen“. Der Glaube an das Verborgene ist die Hauptsubstanz religiösen Glaubens. Diejenigen glauben an das Verborgene, die die Verbundenheit beider Welten erfahren haben.

Grundsätzlich stellt die göttliche Religion die Beziehung mit der Welt der Verborgenheit her, öffnet der natürlichen Welt die Tore zur himmlischen Welt. Die religiösen Lehren wie z. B. die verschiedenen Formen der Anbetung und die religiösen Zeremonien haben dieses Ziel. Anbetung, Gebet, Zwiesprache mit Gott und das Nachdenken über die Schöpfung des Menschen und die Welt

sind wichtig. Islamischen Überlieferungen zufolge entspricht das Nachdenken der Anbetung von 70 Jahren. Es öffnet dem Menschen dank seiner göttlichen Veranlagung die Tore des Himmels, auf die ihm materielle Hindernisse den Blick erschweren oder verwehren.

Ist der Mensch sehr auf das Diesseits konzentriert, wird er seine wesentliche Heimat vergessen, und dies führt zu Entfremdung. Diese Art der Entfremdung findet ihren Ausdruck in Ruhelosigkeit und Traurigkeit. Oftmals haben wir die Erfahrung gemacht, dass Gebete uns Ruhe schenken und man sich seiner ursprünglichen Heimat nahe fühlt.

Heilige und gesegnete Orte

Der Mensch hat die Möglichkeit, diese Beziehung zur himmlischen Welt selbst zu erfahren, sofern er sich von den Verschmutzungen der materiellen Welt fernhält, von seinem Verstand Gebrauch macht und mittels Gottesanbetung, Gebeten und religiösen Ritualen in sich selbst die menschliche Moral entwickelt und alles beseitigt, was diese Verbindung behindern könnte.

Die Möglichkeit, eine solche Verbindung zur himmlischen Welt herzustellen, hat jeder Mensch an jedem Ort und zu jeder Zeit in seinem Leben. Gott ist immer und überall der Begleiter des Menschen. Die Nähe zu Gott setzt weder Vermögen noch Mühen voraus, sondern einzig und allein das Wollen und Verlangen seitens des Menschen. In einem solchen Fall kann er die Nähe Gottes spüren, wie im Qur’an, Sure al-hadid, Vers 4, geschrieben steht: 

„…Er ist mit euch, wo immer ihr auch sein möget…“

Die Schaffung der Verbindung zu Gott setzt also weder einen bestimmten Zeitpunkt noch einen bestimmten Ort voraus. Diese Verbindung kann man vielmehr überall und jederzeit herstellen. In diesem Sinne ist dieser Ausspruch vom Propheten des Islam (s.a.s.) zu verstehen:

جُعِلَت لي الارض ُ مسجداً

„Die ganze Erde ist für mich ein Ort des Gebetes.“

Die Moschee ist ein Ort, der keinem Menschen, sondern einzig und allein Gott gehört. Diese Besonderheit einer Moschee bewirkt ihre Vortrefflichkeit. Die Heilige Moschee in Mekka und die Kaaba sind ein Teil der irdischen Natur, und es besteht zwischen diesem Gebiet und den anderen Gebieten der Erde an und für sich kein Unterschied. Was dieses Stück Erde von den restlichen Gebieten der Erde unterscheidet, ist die Manifestation der himmlischen Welt in diesem Stückchen Erde, das durch besondere nichtmaterielle Bedingungen ausgezeichnet ist.

Aus diesem Grund wurde dieses Gebiet in der islamischen Tradition als heiliger Ort der vorislamischen Zeit und auch nach dem Erscheinen des Islam erklärt.

Die islamischen Quellentexte stellen fest, dass die göttliche Belohnung für Gebete an diesem Ort weitaus größer ist als an allen anderen Orten, und dass die Anbetungen und Hoffnungen der dort Betenden erfüllt werden. Dies ist ein Hinweis auf die besondere Vortrefflichkeit dieses Ortes, und es scheint, dass an diesem Ort ein Stück des himmlischen Paradieses vorhanden ist, nämlich der schwarze Stein. Er ist ein Symbol für die Wiederherstellung der Beziehung und Verbindung zu Gott. Jedes Ritual während der Pilgerfahrt ist ein Symbol der Verbindung und Beziehung zur himmlischen Welt.

Dies alles ist als ein Zeichen dafür zu verstehen, dass an diesem besonderen Stück Erde ein himmlisches Tor geöffnet ist. Folglich bietet sich jedem, der sich dort aufhält, eine besondere Gelegenheit, eine direkte Beziehung und Verbindung zu Gott herzustellen. Man kann nicht genau erklären, warum dieser Ort und dieses Gebiet im Vergleich zu den vielen anderen Orten und Gebieten der Erde eine derart außergewöhnliche Bedeutung gewonnen hat. Möglichweise liegt darin ein Geheimnis der Religionen verborgen, die diese Tatsache zwar erwähnen und den Menschen darauf aufmerksam machen, aber dieses Geheimnis nicht klar erklären. Dieses Geheimnis kann man in der materiellen Welt nicht verstehen, sondern diese Erkenntnis erlangt derjenige, dem der Eintritt in die himmlische Welt gestattet wird.

Die Welt der Verborgenheit ist die Welt der Geheimnisse, die wir mit unseren menschlichen Gefühlen, Erfahrungen und Fähigkeiten nicht wahrnehmen können. Man muss diese Welt verstehen und nicht erklären, denn die Welt der Geheimnisse ist nicht erklärbar.

Heilige und gesegnete Zeiten

Dennoch sieht man im Islam, dass bestimmte Zeiten und Orte eine besondere Wertschätzung verdienen, und das sind die Orte und Zeiten, die wir als heilig bezeichnen. Im Heiligen Qur’an ist von bestimmten Zeiten als „Gotteszeit“ die Rede, und der Prophet wird aufgefordert, die Menschen an diese zu erinnern, so dass sie diesen Zeiten die entsprechende Wertschätzung zukommen lassen.

„…und erinnere es (dein Volk) an die Tage Allahs!…“ (Sure Ibrahim, Vers 5).

Darüber hinaus werden die Menschen aufgefordert, an bestimmten Tagen, die besonders ausgezeichnet sind, an Gott zu denken, wie z. B. in Sure al-Baqara, Vers 203:

„Und gedenkt Allahs während einer bestimmten Anzahl von Tagen…“

Nun stellt sich die Frage: Warum sind in manchen Zeiten Besonderheiten verborgen, die diese gegenüber den anderen Zeiten hervorheben, obwohl doch alle Zeiten eine materielle Quantität haben und es in dieser Hinsicht keinen Unterschied zwischen den verschiedenen Zeiten gibt? In der Beantwortung dieser Frage soll zunächst nochmals auf die bereits erwähnte direkte Beziehung und Verbindung zwischen der natürlichen Welt und der himmlischen Welt verwiesen werden. Wenn zwischen einem Teil der natürlichen Welt und der himmlischen Welt eine Verbindung hergestellt wird, dann werden dieser Teil und dieses Phänomen eine himmlische Erscheinung annehmen. Da die himmlische Welt die vollkommene und ideale Welt ohne jeglichen Mangel und zudem unbegrenzt ist, verursacht die Nähe zu dieser Welt, dass dieses Phänomen die Besonderheiten der himmlischen Welt annimmt.

In der himmlischen Welt ist die Zeit, so wie wir sie aus der natürlichen Welt kennen, nicht vorhanden. Es gibt keinen quantitativen Unterschied zwischen den Zeiten in dieser Welt. Jede Stunde hat eine besondere und begrenzte Bestimmung, in der sich gewisse Dinge ereignen. Diese Geschehnisse können für uns angenehm und süß, oder aber unangenehm und bitter sein; obwohl es von der Quantität her keinen Unterschied gibt, gibt es einen solchen in qualitativer Hinsicht durchaus. Eine Stunde, die mit Schmerzen verbracht wird, erscheint uns länger als eine Stunde, die voller Freude vergeht, und in der wir nicht merken, wie die Zeit verfliegt.

Dadurch werden wir auf den Einfluss der immateriellen Dinge auf den Prozess der Zeit aufmerksam, denn Freude oder Trauer eines Menschen gehören der immateriellen Welt an und haben auf das qualitative Zeitempfinden Einfluss. Wenn in dieser materiellen Welt ein Teil der Zeit eine direkte Beziehung zur himmlischen Welt erlangt, dann wird durch den Einfluss der Vollkommenheit und der Besonderheiten der himmlischen Welt auf die Qualität der materiellen Zeit die Begrenztheit der Zeit reduziert. In den Religionen hat die heilige Zeit solche besonderen Eigenschaften. Der Einfluss der Besonderheiten der himmlischen Welt auf die Qualität der „heiligen Zeit“ vermehrt die Quantität der Zeit im positiven Sinne, wenngleich eine Stunde der heiligen Zeit einer Stunde der gewöhnlichen Zeit entspricht.

„Heilige Zeiten“ sind Stücke dieser normalen Zeiten, die unser Leben ausmachen, mit dem Unterschied, dass diese Zeiten von der himmlischen Welt beeinflusst werden und dadurch in quantitativer wie auch qualitativer Hinsicht einen gewissen Unterschied erfahren. Diese Zeiten sind für die gläubigen Menschen eine besondere Gelegenheit. Deshalb spricht Gott im Heiligen Qur’an von der Nacht der Bestimmung als einer besonderen gesegneten Nacht (Nacht des Segens) für den gläubigen Menschen:

„Wahrlich, Wir haben ihn (den Qur’an) in einer gesegneten Nacht herabgesandt…“(Sure ad-Duhan, Vers 3).

Und an einer anderen Stelle wird dieser Segen wie folgt erklärt:

„Wahrlich, Wir haben ihn (den Qur’an) herabgesandt in der Nacht der Bestimmung. Und was lehrt dich wissen, was die Nacht der Bestimmung ist? Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate.“ (Sure al-Qadr, Vers 1-3).

Gott hat in diesen Versen die Nacht der Bestimmung, obwohl sie, was die Quantität anbelangt, nicht länger als eine Nacht ist, als besser als tausend Monate (ca. 80 Jahre) bezeichnet. Es gilt zu beachten, dass hier von der Beschaffenheit und der Qualität die Rede ist, und nicht von der Quantität! Die Nacht der Bestimmung ist nicht mehr als tausend Monate, und sie hat im Hinblick auf die Quantität keinen Unterschied zu den anderen Nächten und Stunden, aber im Vergleich zu den anderen Nächten ist diese Nacht gleichermaßen wie eine CD der besten Qualität im Vergleich zu einer gewöhnlichen Kassette.

Leave comment

Your email address will not be published. Required fields are marked with *.