Diskussionen über den Menschen im Islam

Thema dieser Ansprache: Die Grenzen der Freiheit des Individuums in der Gesellschaft

Wir hatten gesagt, dass die Faktoren, die die Freiheit einschränken, aus zwei Winkeln oder Dimensionen zu beurteilen sind:

1. Aus der inneren Sicht und das Gewissen

2. Aus der äußeren und gesellschaftlichen Sicht

Die Freiheit wird auf der ersten Ebene in keinster Weiser eingeschränkt, denn das, was wir als Einschränkung empfinden, ist im Grunde nichts anderes, als unsere Bedürfnisse.

Da die Freiheit aber erst in Bezug auf die Bedürfnisse und Wünsche des Menschen Bedeutung erhält, können diese Bedürfnisse selbst nicht als Einschränkung betrachtet werden. Kann die Freiheit jedoch auf der äußeren und gesellschaftlichen Ebene eingeschränkt werden? Jeder, der bisher die Freiheit absolut verteidigte, akzeptierte auch, dass diese Freiheit auf gesellschaftlicher Ebene nicht absolut und uneingeschränkt sein kann.

Die wichtigsten Einschränkungen der menschlichen Freiheit sind das Gesetz und die Freiheit des Anderen.

Jeder ist dieser Theorie zur Folge solange frei, wie er die Freiheit des Anderen nicht beeinträchtigt und das Gesetz nicht verletzt.

Ist die „rote Linie“ der sozialen Freiheiten aber nur in den Vorteilen anderer zu sehen?

Wenn also jemand das Gesetz nicht verletzt und auch den Rechten seiner Mitmenschen nicht zu nahe tritt, aber den Werten, die seine Gesellschaft akzeptiert, zuwiderhandelt, darf man ihm dies dann gestatten?

Die Antwort darauf ist: Es scheint, dass die Grenzen der sozialen Freiheiten nicht nur in Gesetzen oder in den Vorteilen der Anderen liegen. Es gibt noch einen weiteren wichtigen Faktor, der darüber hinausgeht und in der Identität und der Existenz der Gesellschaft liegt.

Jede Gesellschaft besteht zwar aus Individuen, hat aber auch einen historischen Hintergrund, der ihre Identität und ihre Existenz ausmacht. Jede Gesellschaft wird also von einem „Geist“ getragen, der sie von anderen Gesellschaften unterscheidet.

Westliche und östliche Gesellschaften unterscheiden sich nicht nur durch die Individuen, sondern durch den Geist, der in diesen Gesellschaften herrscht. Dieser „Geist“ speist sich aus Aktionen und Reaktionen, Entwicklungen und Veränderungen auf kultureller, politischer und wirtschaftlicher Ebene, die sich im Verlauf ihrer Geschichte abgespielt haben.

Diese historische Vergangenheit ist es, die die Identität der Gesellschaften ausmacht und voneinander unterscheidet. Kulturelle und religiöse Traditionen, nationale Sitten und Gebräuche, die geographische und klimatische Lage sind Dinge, die die Identität einer Gesellschaft beeinflussen.

Diese Faktoren sind nicht leicht zu verändern, weil sie in einem historischen Prozess während vieler Jahre und Jahrhunderte entstanden sind.

Aus diesem Grunde können auch die Individuen einer Gesellschaft diese Faktoren nicht einfach missachten.

In den meisten Fällen kann die Abstimmung oder Konsens auch nicht die identitätsbildenden Faktoren einer Gesellschaft verändern. Sondern sie beeinflussen die einzelnen Individuen.

Die meisten Beurteilungen, die geliebten und verhassten Dinge in einer Gesellschaft, gehen auf diese Traditionen zurück, die mit der Identität der Gesellschaft zusammen hängen.

Der ehrwürdige Koran geht von verschiedenen Identitäten und Schicksalen der Gesellschaften aus und unterscheidet sie voneinander. Er sieht sie nicht nur als Ansammlung von Individuen, sondern spricht der Gesellschaft eine Eigenständigkeit zu, die in einigen Fällen sogar den Willen und die Unabhängigkeit des Individuums beeinflussen kann.

So wie der Mensch eigene Aufgaben und Handlungen hat, die zu Belohnung oder Bestrafung führen, besitzt auch die Gesellschaft einen bestimmten Handlungsradius:

Die Handlungen jeder Gesellschaft erscheinen dieser Gesellschaft als schön (vgl. Sure Anam, Vers 108)

Jede Gesellschaft hat darüber hinaus ihre eigene Geschichte:

Jede Gemeinde wird für ihre Handlungen zur Verantwortung gezogen.

(vgl. Sure Jathia, Vers 28)

Eine der wichtigsten „roten Linien“ der Freiheit besteht also darin, die Identität und Existenz der Gesellschaft nicht zu beeinträchtigen.

Es kann also sein, dass eine Handlung nicht zu einer Gesetzesübertretung führt und auch nicht zu einer Verletzung der Rechte eines anderen, aber den Werten und der Identität einer Gesellschaft entgegen gesetzt ist. In diesem Fall hat das Individuum nicht das Recht, diese Handlung zu begehen.

Auf der einen Seite also müssen die Rechte und Freiheiten der Mitmenschen beachtet werden, die vom Gesetz garantiert werden, und auf der anderen Seite besteht eine Verbindung zwischen der Handlung und der Gesellschaft, in der die Handlung durchgeführt wird. Also darf sich die individuelle Handlung nicht gegen die Werte und Identität der Gesellschaft richten. Gesellschaftliches Zusammenleben impliziert, dass der Einzelne auch Verantwortung für die Identität seiner Gesellschaft übernehmen muss.

Selbst unter liberalen Philosophen gibt es viele, die an den Einfluss der Gesellschaft auf das Individuum glauben. Ein individualistischer Philosoph wie John Stuart Mill, der die Freiheit des Individuums vertritt, besteht auf der Einflussnahme der Gesellschaft auf das Individuum und geht davon aus, dass das Individuum gegenüber seiner Gesellschaft verantwortlich ist.

Wir sagten, dass die identitätsbildenden Werte der Gesellschaften unterschiedlich sein können, sodass diese Gesellschaften auch unterschiedliche „rote Grenzlinien“ ziehen. Daher können die „roten Grenzlinien“ in einer orientalischen Gesellschaft andere sein als die in einer westlichen Gesellschaft.

Der Islam besteht auf der rationalen These, dass die Werte jeder Gesellschaft für sich selbst zu respektieren sind (vgl. Sura Anam: 108).

Es gehört zu den Rechten einer Gesellschaft, ihren Werten treu zu bleiben. Es ist ihnen gestattet Gesetze zu erlassen, die diese Werte und diese Identität schützen. Jeder, der in eine solche Gesellschaft eintritt, ist verpflichtet, diese Gesetze zu respektieren und sie nicht zuwider zu handeln. Selbst wenn jemand diese Gesetze nicht akzeptiert, hat er nicht das Recht, ihnen gegenüber respektlos zu handeln.

Jeder Mensch hat natürlich auf der Basis der Meinungsfreiheit das Recht, in der Gesellschaft bestehende Werte und Traditionen zu kritisieren. Er kann auch seine Gesellschaft verlassen, wenn er ihre Werte nicht ertragen kann; hat aber nicht das Recht, die identitätsbildenden Werte der Gesellschaft zu verletzen, solange er den Schutz dieser Gesellschaft genießt.

Auf der Basis islamischer Lehren ist jeder Muslim verpflichtet, gegenüber der Gesellschaft, in der er lebt, Verantwortung zu übernehmen. So wie die Gesellschaft seine Rechte schützt, ist auch der Muslim verpflichtet, die Regeln der Gesellschaft, in der er lebt, zu respektieren, auch wenn diese Gesellschaft nicht-islamisch ist.

Kein Muslim hat das Recht, Gesetze und Werte einer Gesellschaft zu missachten, nur weil diese Gesellschaft nicht-islamisch ist. Er hat jedoch das Recht, alle Dinge, die seiner Identität entgegen gesetzt sind, zu vermeiden, und kann dazu seine individuellen Rechte nutzen.

Wenn heute Muslime gegen das Gesetz zum Verbot der islamischen Kleidung (Hijab) in manchen westlichen Gesellschaften protestieren, geschieht das nicht aus dem Grund, weil sie die Gesetze und die Werte des Westens verletzen wollen. Wir gestehen diesen Gesellschaften das Recht ein, ihre gesellschaftliche und historische Identität zu bewahren und zu verteidigen.

Wenn der Säkularismus und die Neutralität des Staates gegenüber den Religionen zu den Hauptwerten des Westens gehören, sind wir als Muslime verpflichtet, diese Werte zu respektieren und nichts gegen sie zu unternehmen.

Daher möchte ich Ihnen mitteilen, dass wir in dieser Gesellschaft das Grundprinzip der „Trennung zwischen Religion und Staat“ respektieren und dies für nötig halten.

Dies entspringt nicht einer taktischen Vorgehensweise oder einer politischen List, zu denen wir aus der Ausweglosigkeit heraus gelangt sind, sondern einer Rationalität, die auf den Lehren des Islam aufbaut, die den Menschen verpflichten, die gesellschaftlichen Verträge einzuhalten. Der Islam lehrt uns, das Recht jeder Gesellschaft auf die Bewahrung ihrer Werte zu respektieren. Die Übertretung solcher Regeln wird nicht nur als Gesetzesübertretung angesehen, die eine Strafe nach sich zieht, sondern darüber hinaus eine Übertretung eines göttlichen Gebotes.

Meiner Meinung nach: wenn die Kleidung muslimischer Frauen wirklich die Gesetze und Werte mancher Gesellschaften verletzen sollte, müssten diese Muslime sich nach diesen Regeln richten.

Unsere Rede ist jedoch, dass der Säkularismus nicht zwangsläufig mit einer negativen Haltung gegenüber den Religionen verbunden ist, sondern eine Neutralität gegenüber religiösen Glaubensinhalten impliziert, die weder positive noch negative Reaktionen gegenüber den Religionen verlangt.

Die Gesetze eines zivilisierten Landes wie Deutschland, das als Heimat der Philosophie betrachtet werden kann, haben es sich sogar zum Ziel gemacht, die Anhänger aller Religionen bei der Ausübung ihrer Religion gleichsam zu unterstützen.

Die Säkularität lässt dem Menschen sogar freie Hand bei der Wahl seiner Religion oder seiner Kleidung. Säkularität bedeutet auf keinste Weise, die Religionen zu leugnen, sondern verlangt von den Mitgliedern der Gesellschaft sogar, anderen eine bestimmte Meinung nicht aufzuzwingen.

Wenn es also heißt, dass keiner den anderen Gesellschaftsmitgliedern seine religiösen Anschauungen aufzwingen darf, so ist auch umgekehrt nicht zulässig, wenn manche den Gläubigen ihre unreligiöse Lebensweise aufzwingen.

Der säkulare Staat ist verpflichtet, die Angehörigen bei der Durchführung ihrer religiösen Gebote zu unterstützen.

Dies gilt genauso wie für andere Rechte, die wie das Wohnrecht gewährleistet werden müssen. Muslime und andere religiöse Minderheiten von der Ausübung ihrer religiösen Pflichten abzuhalten bedeutet eine Einmischung in die Privatsphäre und im Endeffekt den Tod der Demokratie.

So wie Muslime nicht berechtigt sind, die Gesetze des Landes, in dem sie leben, zu verletzen, darf die Gesellschaft ihnen auch nicht bestimmte Werte aufzwingen. Ein letzter Punkt ist, dass keine Gesellschaft einer anderen ihre Werte und ihre historische Identität aufzwingen darf. So, wie westliche Gesellschaften das Recht haben, ihre Identität und ihre Werte zu verteidigen, dürfen dies auch östliche und islamische Gesellschaften. Sie dürfen erwarten, dass man sie dabei respektiert.

Heutzutage sehen alle Menschen auf der Welt, wie im Irak die Würde der Menschen verletzt wird und wie die Heiligtümer der Muslime, die ein Teil ihrer sozialen und historischen Identität sind, beleidigt werden.

Es ist nicht akzeptabel, dass manche Werte besser sein sollen, als andere und dass manche Gesellschaften das Recht haben, anderen ihre Werte aufzuzwingen. Dies bedeutet aus meiner Sicht eine Rückkehr in eine prähistorische Zeit.

Zum Schluss möchte ich allen christlichen Brüdern und Schwestern und besonders der deutschen Gesellschaft zum Fest Christi Himmelfahrt gratulieren und würdige diesen großartigen göttlichen Propheten. Jesus Christus ertrug wie Moses und Muhammad(s.a) große Qualen, um die Menschen recht zu leiten. Diese Qualen darf man aber niemals den Angehörigen einer Offenbarungsreligion, d.h. Judentum, zuschreiben und alle Juden verurteilen.

Unser Prophet Muhammad(s.a) wurde von manchen seinen Familienangehörigen gequält und bekämpft. Das ist aber kein Grund dafür, alle seine Familienangehörige zu verurteilen. Daher wurde sein Nachfolger aus seinem engsten Familienkreis gewählt.

Die Übertretungen einiger Juden, Christen oder Muslime dürfen wir also niemals dem Judentum, dem Christentum und dem Islam zuschreiben.

Wir empfinden als Muslime großen Respekt für unsere jüdischen Brüder, die einer göttlichen Religion folgen.

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