Mensh und Gott
Aus islamischer Sicht gibt es keinerlei Einschränkung der Beziehung des Menschen zu Gott. Die Verbindung zu Gott braucht keine Vermittler, sondern jeder kann in jedem Zustand und mit jedem Verhalten auch wenn er bisher kein gutes Verhalten gezeigt oder sogar gesündigt hat, in jedem Moment die Verbindung zu Gott aufnehmen und mit Ihm reden, seine Sünden bereuen und Ihn um Hilfe und Vergebung bitten.
Im Islam verstehen sich die Theologen niemals als Vermittler zwischen Gott und dem Menschen, sondern auch der Theologe selbst muss wie jeder andere Mensch seine Verbindung zu Gott schaffen und hat dabei keinerlei Vorteile gegenüber den anderen.
Die besondere Stellung und Funktion der Theologen im Islam resultiert aus ihrer Interpretation des Islam. Die Interpretation und Erläuterung der Religion und Theologie bedarf wie bei jeder anderen Disziplin einer bestimmten fachspezifischen Erkenntnis. Der Theologe hat als Experte für die Theologie das Recht, die religiösen Lehren zu erklären und zu interpretieren. Um es aber nochmals deutlich zu sagen: Er ist kein Vermittler zwischen dem Menschen und Gott. Gott ist der Gott aller Menschen, und die Beziehung Gottes ist zu allen Menschen gleich. Es verhält sich nicht so, dass Gott manchen Menschen näher ist, d. h. Er eine engere Beziehung zu diesem Menschen hat, während er anderen ferner ist. Gott ist allen Menschen nah, und diese Nähe wird im Heiligen Qur’an so beschrieben, dass Gott mit den Menschen ist, wo immer sie auch sind (vgl. Sure al-Hadid, Vers 4). Niemand kann für sich auch nur in einem einzigen Augenblick oder an einem bestimmten Ort behaupten, Gott sei nicht bei ihm. Der genannte Qur’anvers betont, dass die Gesellschaft Gottes und Seine Nähe zum Menschen von Zeit und Ort unabhängig ist und einen besonderen geistigen und spirituellen Zustand des Menschen darstellt.
Grundsätzlich ist mit dieser göttlichen Gesellschaft eine Nähe und Begleitung gemeint, die das menschliche Wesen betrifft. Das bedeutet, dass das Sein und Leben des Menschen auf dieser Begleitung und Nähe gründet und er ohne diese Nähe und Begleitung nicht existieren würde, d. h. er wäre tot. Aus diesem Grund ist mit dieser göttlichen Nähe und Gesellschaft niemals eine äußerliche Nähe gemeint im Sinne von zwei Phänomenen, die zusammen sind. Die Nähe Gottes zum Menschen ist vielmehr eine Nähe und Begleitung, die jedes Phänomen für sich selbst hat. Deshalb gebraucht Gott im Heiligen Qur’an das Bild, dass Er dem Menschen näher ist als dessen eigene Halsschlagader (vgl. Sure Qaf, Vers 16), wenn Er die Stärke dieser Nähe beschreibt und gleichzeitig hervorhebt, dass damit keine materiell fassbare Nähe gemeint ist. Die Nähe des Menschen zu seiner eigenen Halsschlagader und seine Abhängigkeit von ihr sind so groß, dass seine Existenz und sein Leben davon abhängen, denn wenn seine Halsschlagader durchtrennt wird, stirbt der Mensch.
Genauso verhält es sich mit der Nähe Gottes zum Menschen; das menschliche Leben bedarf dieser Nähe, und in diesem Sinne sichert die Halsschlagader die physische Existenz des Menschen, während Gott darüber hinausgehend die Existenz des menschlichen Seins sicherstellt. In dem zuvor genannten Vers wurde die Nähe Gottes zum Menschen mit der Nähe des Menschen zu seiner eigenen Halsschlagader verglichen, weil die physische Existenz ein Teil des Daseins ist und mit dem physischen Tod die Existenz des Menschen nicht endet.
Wir können also festhalten, dass Gott dem Menschen so nahe ist, dass selbst wenn der Mensch es möchte, er Gott niemals aus seiner Nähe entfernen kann. Er kann sich aber selbst von Gott entfernen. Die Entfernung des Menschen von Gott ist eine aus Erkenntnis resultierende Entfernung, d. h. der Mensch kann sein Leben so gestalten, dass er Gott vergisst und die göttliche Nähe und Begleitung außer Acht lässt. Gott ist einem Menschen, auch wenn dieser sündigt, niemals fern. Ein sündiger Mensch wird je nach Sünde die Nähe und Gesellschaft Gottes nicht spüren, und aus diesem Grund wird die Sünde in der islamischen Lehre als Schleier und Vorhang bezeichnet. Genauso wie ein Vorhang oder Schleier etwas verbirgt und verhindert, dass es erblickt wird, verschleiert auch die Sünde die innere Wahrnehmung des Menschen, wodurch verhindert wird, dass man Gott mittels Vernunft und Herz wahrnimmt.
Mit der Anzahl der Sünden und schlechten Taten nimmt die Undurchdringlichkeit der Vorhänge und Schleier zu. Deshalb wird das unwirkliche künstliche Gefühl der Entfernung von Gott im Menschen verstärkt. Mit künstlichem Gefühl ist gemeint, dass der Mensch den Fehler begeht, sich von Gott zu entfernen, so dass Gott in seinem Leben keine Rolle spielt. In Wahrheit verhält es sich aber wie bereits erwähnt so, dass Gott dem Menschen nahe ist und sein Dasein und Leben auf der Nähe und Gesellschaft Gottes gründen. Das ist der Grund, warum das Gefühl des Menschen als künstlich oder falsch bezeichnet wird. Dieses falsche Gefühl kann im Menschen mit der Zeit so stark werden, dass er Gott grundsätzlich vergisst und Ihn in seinem Leben ignoriert, und dass er schließlich davon ausgeht, dass Gott in seinem Leben keine Rolle spielt und er sich Gott gegenüber nicht als bedürftig ansieht. Der Qur’an bezeichnet diesen Vorgang als die Krankheit der Vergesslichkeit. Krankheit ist ein Zustand, der für den Menschen ein unnatürliches Befinden darstellt; der Kranke ist jemand, der keinen gesunden natürlichen Zustand mehr hat. Seiner Natur entsprechend behält der Mensch alle Wahrheiten des Lebens bei sich, und aufgrund der Tatsache, dass aus qur’anischer Sicht die Begleitung und Nähe Gottes zum Menschen die grundsätzlichste und wichtigste Wahrheit der Existenz ist, leidet ein Mensch, der diese Wahrheiten ignoriert, an der Krankheit der Vergesslichkeit. Die Vergesslichkeit ändert die Wahrheit nicht. Ein Mensch, der z. B. an Alzheimer leidet, vergisst, was existiert, aber mit seiner Vergesslichkeit verschwinden nicht die Wahrheiten. Das bedeutet, auch bei Vergesslichkeit wird Gott nicht aus dem Leben des Menschen verschwinden, sondern Er wird nur ignoriert. Und das ist genau der Punkt, von dem der Qur’an spricht, dass nämlich die Entfernung des Menschen von Gott nichts anderes ist als Gottvergessenheit.
Ein wichtiger Punkt, den der Qur’an sehr subtil erläutert ist der, dass es für die Krankheit Gottvergessenheit auch einen anderen Namen gibt, nämlich Selbstvergessenheit. Das heißt, jeder, der von der Krankheit Gottvergessenheit befallen ist, leidet den zuvor dargelegten Gründen zufolge notwendigerweise auch unter der Krankheit der Selbstvergessenheit. Die Gesellschaft und die Nähe Gottes zum Menschen sind nicht identisch mit der Gesellschaft und Nähe zweier Phänomene. Was die Begleitung und äußere Nähe zwischen zwei Menschen anbelangt, so stellt die Trennung der beiden voneinander keine notwendige Wechselbeziehung im Sinne eines Verschwindens oder Vernichtens dar. Das bedeutet, selbst wenn einer von beiden vernichtet wird, existiert der andere weiter. Auch die spirituelle und geistige Nähe gehört zur äußerlichen Nähe, weil mit der äußerlichen Nähe jede Art von Nähe und Gesellschaft gemeint ist, die außerhalb des Wesens des Phänomens liegt und die für das Weiterleben und die Existenz des Menschen keine Bedeutung hat. Die Mutterliebe zum Kind ist z. B. ein im Inneren der Mutter vorhandenes Gefühl, das sie begleitet und in ihr ist, aber die Existenz der Mutter ist von dieser Liebe unabhängig. Die Stärke der Liebe, gleich wie stark sie ist, kann höchstens die materielle Existenz beeinflussen, aber in der Existenz des Seins, d. h. dem Dasein des Menschen im Universum hat sie keine Wirkung.
Aber die Gesellschaft und Nähe Gottes zum Menschen unterscheidet sich klar von einer solchen Zusammengehörigkeit. Diese göttliche Begleitung ist mit dem Wesen und der Substanz des menschlichen Seins verbunden, so dass, wenn es keinen Gott gäbe, es auch keinen Menschen geben würde. Gottvergessenheit bedeutet das Vergessen der Identität und des Daseins des Menschen, und ein Mensch, der Gott vergessen hat, ist genau der Mensch, der von der Krankheit der Selbstvergessenheit befallen ist, und der die wichtigsten Angaben bezüglich des Lebens vergessen hat, nämlich: Wer ist er? Woher kommt er? Wer hat ihn hierher gebracht? Warum ist er hierher gekommen? Und wohin ist er gekommen? Wohin wird er gehen? Dieses sind die wichtigsten Angaben des Lebens, die dem Menschen, der Gott vergessen hat, entfallen sind. Aus diesem Grund betont der Qur’an die Gefahr dieser Krankheit und warnt den Menschen davor, wie z. B. in Sure al-Hapr, Vers 19, wo betont wird, dass Gott jene ihre eigenen Seelen vergessen ließ, die Ihn vergessen haben.
Mit der starken Betonung auf die prophetische Lehre und Bildung des Menschen hat Gott die Voraussetzung für die entsprechende Stärke des Menschen geschaffen, die ihn vor dieser Krankheit schützt. Darüber hinaus hat Er den Menschen Gelegenheiten geschaffen, die, wenn er sie nutzt, seine dunklen Schleier der Sünde beseitigen und ihn das Licht der Wahrheit sehen lassen. Eine solche außergewöhnliche Gelegenheit ist der gesegnete Monat Ramadan, an dessen Anfang wir stehen, und dessen Merkmale ich in den nächsten Ansprachen ausführlicher darlegen werde.
Die am besten geeignete Ansprache für den heutigen Tag ist die Ansprache des großen Propheten des Islam, Muhammad (s.a.s), die er am Beginn des gesegneten Monats Ramadan gehalten hat, und in der es unter anderem heißt:
„O Leute, Allahs Monat Ramadan ist mit göttlichen Gnaden und Segnungen gekommen. Dies ist der Monat, der in der Einschätzung Allahs der beste aller Monate ist. Seine Tage sind die besten unter den Tagen. Seine Nächte sind die besten unter den Nächten. Seine Stunden sind die besten unter den Stunden. Es ist ein Monat, in dem ihr zur Gastfreundlichkeit Allahs eingeladen worden seid, und in dem ihr zu Angehörigen der Würde Gottes gemacht wurdet. In ihm sind eure Atemzüge Lobpreisungen, euer Schlaf Gottesverehrung. Eure Taten werden angenommen, und eure Bittgebete werden erhört werden. So ruft Allah, euren Herrn, mit ehrlichen Absichten und reinen Herzen an, dass er euch beistehen möge bei dem Fasten für Ihn und dem Rezitieren Seines Buches. Derjenige, der in diesem mächtigen Monat nicht die Gnade und das Wohlwollen Allahs empfängt, ist sehr unglückselig.“
Selbstvergessenheit und Gottvergessenheit
Im vorausgegangene Abschnitt wurde gesagt, dass die Sünde wie ein Schleier ist, der die Sicht der Vernunft und des Herzens des Menschen bedeckt, so dass er die Wahrheit nicht erblicken kann, und der die Nähe zu Gott und Seine Begleitung verhindert. Letztlich wird dadurch verursacht, dass der Mensch die Krankheit der Gottvergessenheit und Selbstvergessenheit erleidet. Diese Krankheit kann in ihrer Maßlosigkeit und Stärke eine menschliche und persönliche Katastrophe darstellen, und zwar den Niedergang der menschlichen Persönlichkeit. Darüber hinaus wird der Mensch durch Wiederholung und Vermehrung der Sünden die Hindernisse und Schleier zwischen sich und Gott so verstärken und ausdehnen, dass er Gott grundsätzlich vergisst und in seinem Leben Gott keine Rolle mehr spielt. In diesem Fall wird die Krankheit Gottvergessenheit eine harte, unkontrollierbare Form annehmen und bewirken, dass alle göttlichen Elemente in der menschlichen Person in Vergessenheit geraten und der Mensch von der Krankheit der vollkommenen Vergesslichkeit befallen ist.
Wenn man bedenkt, dass die wahre Identität und Persönlichkeit des Menschen in ihrer Verbindung zu Gott Bedeutung gewinnt, so wird der Mensch, wenn er diese Verbindung ignoriert, auch sein göttliches Wesen und seine göttliche Persönlichkeit vergessen; auf dieser Stufe der Krankheit wird der heimgesuchte Mensch zu einer verunstalteten Persönlichkeit, wie im Falle der Krankheit der Vergesslichkeit, die ihn sein Menschsein vergessen und sich selbst als ein anderes Phänomen sehen lässt. Ein Mensch, der Gott vergessen hat, wird aufgrund dieser Gottvergessenheit seine wahre Identität vergessen. Die Verbindung Gottes mit dem Menschen ist keine einfache Verbindung; es ist eine Verbindung, die dem Menschen eine gewisse Identität und Persönlichkeit verleiht. Wenn man diese Verbindung also nicht berücksichtigt und ignoriert, wird das Ergebnis davon eine persönliche Verunstaltung und Identitätskrise sein.
Das Wesen der Sünde aus islamischer Sicht
In der „Gottvergessenheit-Selbstvergessenheit-Anschauung“, von der der Qur’an spricht, gibt es einige wichtige Punkte, die die islamische Anthropologie beschreibt. Der erste Punkt betrifft die Wahrheit und das Wesen der Sünde. Aus islamischer Sicht resultiert die Sünde aus dem Fernbleiben des Menschen von seinem Ursprung und dem Vergessen seiner göttlichen Identität. Der Islam vertritt wie das Christentum die Ansicht, dass die Sünde eine wichtige Bedeutung für das Schicksal des Menschen hat, und zwar so sehr, dass die Sünde letztlich auf das Schicksal und die Glückseligkeit des Menschen verändernd einwirken kann. Die Definition, die der Islam von der Sünde gibt, entspricht nicht dem Verständnis von Sünde im Christentum, wonach die erste Sünde, die von Adam und Eva begangen wurde, eine Sünde für alle nachkommenden Generationen ist und das Schicksal und Wesen des Menschen beeinflusst und bewirkt hat, dass das Wesen des Menschen verkommen und sündig wurde (vgl. Römerbriefe, 19). Aber aus islamischer Sicht hat der Mensch kein sündiges und revoltierendes Wesen, sondern in ihm stecken Fähigkeiten, die seine Glückseligkeit und Neigung zu guten Eigenschaften garantieren. Die Sünde ist im Gegenteil zu einer Hauptsubstanz ein akzidentielles Phänomen. Der wichtigste Unterschied zwischen akzidentiellen und substanziellen Phänomenen liegt erstens darin, dass die akzidentellen Phänomene sekundär sind. Flüssigsein und Beweglichsein sind besondere Eigenschaften der Substanz Wasser und anderer Flüssigkeiten. Jede Flüssigkeit fließt automatisch und hat keine Gestalt. Selbstverständlich kann man diese Flüssigkeit frieren lassen und ihr dadurch eine bestimmte Gestalt geben. Aber die Festigkeit und das Annehmen einer Gestalt sind ein akzidentielles Prinzip, das im Widerspruch zu seinem essentiellen Ursprung steht und somit einen Widerspruch zu der Natur der Flüssigkeiten darstellt. Und aufgrund dieses Widerspruches zur Natur der Flüssigkeit, denn erstens ist diese Eigenschaft von Anfang an in der Flüssigkeit nicht gegeben, bedarf es zweitens zur Verwirklichung dieser Eigenschaft (d. h. Verfestigen) einer äußerlichen Ursache.
Die Sünde ist im Menschen ein akzidentielles Phänomen. Prinzipiell ist der Mensch niemals sündig oder rebellisch; seine Revolte gegen den göttlichen Willen geschieht in einem sekundären Prozess und allmählich. In der islamischen Lehre wird das Wesen des Menschen wie ein klarer und glänzender Spiegel gesehen, auf dem die Sünde wie ein schwarzer Punkt sichtbar wird. Imam as-SaJJad (a.s.), der große Führer der Muslime, hat die Begehung der Sünde als eine akzidentielle falsche Tat angesehen, d. h. er hebt gerade diese Zufälligkeit der Sünde hervor. Diese Sicht geht auch aus manchen Gebeten hervor, wenn Gott so angebetet wird:
„O Gott, lasse den Abstand zwischen mir und meinen Sünden groß sein!“
So ein Gebet, das so auf dieses akzidentielle und vom Menschen trennbare Phänomen schaut, und berücksichtigt, dass die Sünde nicht im Wesen des Menschen enthalten ist, verdeutlicht, dass der Geist des Menschen von Gott ist und nicht im Widerspruch steht zum Geist Gottes, sondern vielmehr in einem vollkommenen Verständnis miteinander im Einklang sind. Und dieses Verständnis und Zusammensein ist genau die Nähe und das Zugegensein Gottes beim Menschen, worüber wir bereits gesprochen haben. Durch diese vom Wesen bedingte Harmonie und Nähe kann der Mensch alle göttlichen Eigenschaften vollkommen in sich widerspiegeln und diese Stellung, nämlich Stellvertreter Gottes zu sein, annehmen, von der der Qur’an in Sure al-Baqara, Vers 30 spricht. Allerdings darf der Punkt nicht unberücksichtigt bleiben, dass der Mensch eine Mischung aus Geist und Materie ist, und deshalb betont der Qur’an die Zweidimensionalität des Menschen. Das Grundelement seiner Persönlichkeit macht jedoch der Geist aus, der eine göttliche Stellung und Identität hat, wie der Qur’an in Sure Sad, Vers 72, klar zum Ausdruck bringt, wo Gott sagt, dass Er dem Menschen von Seinem Geist eingehaucht hat.
Aber neben dem Geist gibt es noch die materielle Natur des Menschen, die in der natürlichen Welt eine Notwendigkeit darstellt. Diese materielle Natur ist ein wichtiges und bestimmendes Element für die Persönlichkeit des Menschen, wenngleich sie im Vergleich zu seinem Geist zweitrangig ist. Und der Qur’an hebt dies deutlich hervor, indem er feststellt, dass das, was den Menschen zum Menschen macht und das ihn auszeichnet, als höchstes Geschöpf bezeichnet zu werden, vor dem die göttlichen Engel sich niederwerfen, der göttliche Geist und nicht seine materielle Natur ist. Die materielle Natur des Menschen ruft in vielen Fällen in seinem Inneren eine Neigung zu schlechten Dingen hervor, im Unterschied zur göttlichen Veranlagung, die nach Schönheit und guten Dingen strebt und ihn zu seinem Ursprung, d. h. Gott zurückkehren lässt. Deshalb ist die Persönlichkeit des Menschen aus zwei Dimensionen, der spirituellen und der materiellen, geschaffen worden, wobei das spirituelle Element wesentlich und das materielle Element nebensächlich ist. Entsprechend dieser zwei wesentlichen und nebensächlichen Elemente gibt es im Inneren des Menschen zwei Arten von hauptsächlichen und nebensächlichen Neigungen, nämlich zum einen die Tendenz zu guten und höheren Dingen und guten Eigenschaften, und zum anderen die Tendenz zu Sünde, also der Entfernung von guten Dingen. Die Zweidimensionalität des Menschen hat in ihm Willen und Selbstbestimmung zustande gebracht. Der Wille des Menschen verleiht ihm die Macht der Wahl. Gleichermaßen verursacht die Wahrhaftigkeit des spirituellen Elements in der Persönlichkeit des Menschen, dass seine Neigung zu guten Eigenschaften in ihm tiefer und verwurzelter wird, was ihm selbstverständlich die Entscheidung für gute Dinge und Eigenschaften erleichtert.
Die Sünde ist in der materiellen Natur des Menschen tief verwurzelt. Die materielle Zuneigung des Menschen verursacht Widerspenstigkeit gegenüber der göttlichen Veranlagung. Rebellion und Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Geist des Menschen basieren dem Qur’an zufolge auf einer Zunahme der materiellen Neigungen des Menschen, so dass der Mensch letztlich von diesen materiellen Wünschen unterworfen wird und von der Sünde bezwungen wird, wodurch er sich von der göttlichen Veranlagung entfernt. In der islamischen Lehre wird die spirituelle Dimension der menschlichen Persönlichkeit, die ja der göttliche Geist ist, Veranlagung (Fixra) genannt, seine materielle Dimension wird als Natur, d. h. nafs-al-’ammara (Triebseele) bezeichnet, und die Neigungen und Vorlieben seiner materiellen Natur werden Instinkt genannt.
Die Zweidimensionalität der menschlichen Persönlichkeit, wobei die göttliche und spirituelle Dimension des Menschen das Hauptprinzip und seine materielle Dimension das Nebenprinzip darstellt, kann niemals dahingehend interpretiert werden, dass die materielle Natur unnütz ist und einfach außer Acht gelassen werden kann, man also seinen Neigungen nicht antworten darf. Der Qur’an lehrt den Menschen vielmehr, dass Vollkommenheit, d. h. die Herrschaft und Praktizierung des göttlichen Geistes im Menschen ohne richtige Nutzung und Kontrolle seiner materiellen Natur nicht erreicht werden kann. In der Philosophie der Schöpfung wird das Grundprinzip der materiellen Natur des Menschen als das beste und fähigste Mittel zur Vervollkommnung dargestellt, allerdings gibt es Momente, in denen diese Natur für den Menschen Krisen hervorgerufen und seinen Vervollkommnungsprozess gestört hat, und zwar genau dann, wenn der Mensch seine unkontrollierbaren Triebe beantwortet.
Der Heilige Qur’an beschreibt die materielle Natur als gierig und habsüchtig und stellt fest, das die materielle Natur des Menschen ihn nur in diesem Zustand zu Rebellion und Ungehorsam gegenüber dem göttlichen Geist und seiner spirituellen Dimension aufruft, und unter Berücksichtigung dieser besonderen und extremen Eigenschaft wird die materielle Natur, d. h. die Dimension der menschlichen Persönlichkeit, die immer nach mehr strebt und mit ihren außergewöhnlichen Wünschen das Mittelmaß überschreitet, in der qur’anischen Sprache als „Nafs al-’ammara“ bezeichnet. Der Begriff „’ammara“ wird in der arabischen Sprache für etwas verwendet, das übertriebene Wünsche und Verlangen hat. Wenn diese Maßlosigkeit und diese außergewöhnliche Verlangen kontrolliert werden und in ein Mittelmaß gebracht werden, stellen die materielle Natur des Menschen, seine Instinkte und seine materiellen Neigungen kein Hindernis für seine Vervollkommnung dar, sondern sind vielmehr ein Mittel, das ihm hilft, seine Vervollkommnung besser zu erreichen. Grundsätzlich ist die Vervollkommnung des Menschen nichts anderes als die Kontrolle seiner materiellen Natur im Rahmen der Herrschaft des Geistes. Es wurde bereits erwähnt, dass das Gleichgewicht das Wesen und die Wirklichkeit der Menschlichkeit ausmacht. Obwohl die Sünde ihre Wurzeln in der materiellen Natur des Menschen hat, kann sie nicht als Phänomen angesehen werden, das nicht von ihr zu trennen wäre. Die materielle Natur der Neigungen und Interessen wird genau dann in Sünde umgewandelt und ruft genau dann zur Rebellion gegen den göttlichen Geist auf, wenn diese Neigungen außer Kontrolle geraten und zu einem übertriebenen Streben nach Mehr werden und im qur’anischen Sinne zur Triebseele (nafs al-’ammara) werden. Es verhält sich auch nicht so, dass jeder Wunsch und jede Neigung, die die materielle Natur entwickelt, gleichbedeutend ist mit Sünde und Rebellion. Alle Neigungen und natürlichen Wünsche des Menschen sind nicht automatisch schlecht und sollten, solange sie nicht aus dem Gleichgewicht geraten, positiv beantwortet werden. Die Berücksichtigung dieser Wünsche ist eine Notwendigkeit für die Vervollkommnung und Entwicklung des Menschen.
Essen, Schlafen, ein ruhiges Leben führen und Wohlstand, sinnliche Freuden usw. sind alles Instrumente, die zur Entwicklung und Vervollkommnung der menschlichen Persönlichkeit beitragen, solange sie im Gleichgewicht sind; wenn sie jedoch außer Kontrolle geraten, werden sie in Sünde umgewandelt und stören auf dem Weg zur Entwicklung und Vervollkommnung des Menschen. Im gleichen Maße wie dieser Prozess der Übertreibung stärker wird, nimmt die Macht des göttlichen Geistes im Menschen ab und wird der Mensch von seiner göttlichen Veranlagung entfernt und kann die Nähe und die Begleitung Gottes nicht erhalten. Ein solcher Mensch wird die Krankheit der Gottvergessenheit erleiden. Sünde und Gottvergessenheit ist aber kein unveränderbares Schicksal des Menschen wie im Christentum, weil eine besondere Eigenschaft der akzidentiellen Phänomene ihre Vergänglichkeit ist, d. h. die Sünde, die ein akzidentielles Phänomen ist und aus der Rebellion der materiellen Natur hervorgeht, kann auch verschwinden. In dem Moment, in dem der Mensch sich entscheidet, seine Natur und Triebseele unter seine Kontrolle zu bringen, hat er sich auf den Gottesweg begeben und kann mit Ihm Kontakt aufnehmen.
Der Monat Ramadan ist ein Monat, in dem die Kontrolle des Menschen über seine Triebseele leichter ist. Die Möglichkeit der Abkehr von der Sünde und der Verbindung mit Gott sind für den Menschen besser als in jeder anderen Zeit. Der Prophet des Islam hat in einem Teil seiner Predigt, in der er über die Vorzüge des Monats Ramadan gesprochen hat, gesagt: „Denkt in eurem Hunger und Durst an den Hunger und den Durst am Tag der Auferstehung. Gebt den Armen und Bedürftigen Almosen. Zollt euren Alten Respekt. Seid barmherzig zu der Jugend, und seid freundlich zu Bekannten und Verwandten. Hütet eure Zungen vor unwürdigen Worten und eure Augen vor verbotenen Anblicken, und eure Ohren vor Lauten, die nicht gehört werden sollten. Seid freundlich zu den Waisen, so dass, wenn eure Kinder Waisen werden, auch sie mit Freundlichkeit behandelt werden. Bereut eure Sünden. Erhebt eure Hände zur Zeit der Pflichtgebete, da dies die besten Stunden sind, in denen Gott Seine Diener mit Barmherzigkeit anschaut. Er wird ihnen antworten, wenn sie Ihn rufen, ihnen geben, wenn sie Ihn anrufen und ihnen antworten, wenn sie Ihn bitten.“
Die Verbindung des Menschen zu Gott
Bisher haben wir von der Verbindung zwischen Gott und Mensch und den Ursachen, die eine Annäherung des Menschen zu Gott verhindern, gesprochen. Gott ist dem Menschen nahe, und diese Nähe ist unvorstellbar. Wenn in dieser Beziehung überhaupt eine Entfernung existiert, dann hängt dies mit der Vernachlässigung dieser Annäherung und dem Unverständnis seitens des Menschen zusammen. Eine der wichtigsten religiösen Lehren ist, dass es ebenso viele Wege zu Gott gibt wie es Menschen gibt. Gott begleitet den Menschen immer, und Er ist ihm niemals fern. Deshalb ist die Verbindung zu Ihm sehr leicht und bedarf weder bestimmter Voraussetzungen noch einer Vermittlung. Die einzige Voraussetzung für die Verbindung des Menschen zu Gott ist das Wollen des Menschen, denn von göttlicher Seite her existiert diese Verbindung immer. Es ist der Mensch, der die Verbindung zu Gott aufnehmen soll. Diese Verbindung des Menschen mit Gott bedeutet, dass er begreift, dass Gott ihm nahe und mit ihm verbunden ist. Folglich kann der Mensch in jedem Moment und an jedem Ort, wann und wo er will, diese Verbindung herstellen.
Aus islamischer Sicht ist diese Verbindung nicht von einer bestimmten Zeit oder einem bestimmten Ort abhängig. Die heiligen Zeiten und Orte bieten lediglich besondere Gelegenheiten für eine leichtere Verbindung mit Gott, aber niemals ist diese Verbindung nur auf diese Zeiten und Orte beschränkt oder davon abhängig. Im Islam sind manche Tage und Monate im Laufe des Jahres heiliger und wichtiger als andere Tage und Monate, wie beispielsweise die Nacht zum Freitag, der Freitag selbst, der gesegnete Monat Ramadan oder die Nächte der Bestimmung (Laylatu-l-qadr) im Laufe des Jahres. Es gibt auch heilige Orte, wie z. B. die Kaaba im Hedschas, oder die Moscheen an sich, gleich an welchem Ort sie sich befinden. Die Besonderheit dieser Zeiten und Orte liegt in ihren bestimmten Eigenschaften und der Tatsache, dass ihnen im Hinblick auf die Verbindung mit Gott eine besondere Stellung zukommt; an solchen Orten ist die Verbindung zu Gott leichter, wenngleich die Gründe, warum diese Orte und Zeiten so eine besondere Rolle spielen, wissenschaftlich nicht eindeutig erklärt werden können. Das sind Geheimnisse, die in der göttlichen Offenbarung gründen, über die die Religionen gesprochen haben und die der Mensch wie viele andere religiöse Lehren nicht entdeckt hätte, wenn die Religion nicht darüber gesprochen und die Offenbarung diese Vorhänge nicht beseitigt hätte. Deshalb sind die mit bestimmten Zeiten und Orten verbundene Energie und die versteckten Besonderheiten ein beobachtbares Prinzip. Diesen Punkt möchte ich jedoch im Hinblick auf unser Thema nicht weiter ausführen, sondern festhalten, dass für uns in diesem Zusammenhang wichtig ist, dass die Verbindung mit Gott nicht von diesen Orten und Zeiten abhängig ist. Auch der Prophet des Islam hat dies in der folgenden Überlieferung sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, in der es heißt: „Man kann sich überall auf der Erde vor Gott niederwerfen und mit Ihm Verbindung aufnehmen.“ Und diese Verbindung ist nicht nur auf einen besonderen Ort namens Moschee beschränkt, sondern „die ganze Erde ist für mich eine Moschee“ sagte der Prophet.
Gemäß der Sicht des Islam ist die Herstellung der Verbindung mit Gott nicht auf eine besondere Schicht, wie z. B. die Rechtsgelehrten, und nicht auf einen besonderen Tag wie z. B. den Freitag beschränkt. Gott zu erreichen ist nur für diejenigen schwer, die Ihn vergessen haben. Für jemanden hingegen, der die Schleier der Vergessenheit beseitigt und beabsichtigt, mit Gott Verbindung aufzunehmen und mit Ihm zu sprechen, der wird Ihn bei sich finden. Gott sagt in aller Deutlichkeit im Qur’an zum Propheten, dass wenn dich Meine Diener über Mich befragen, so bin Ich nahe; Ich höre den Ruf des Rufenden, wenn Er Mich ruft (vgl. Sure al-Baqara, Vers 186). Der wichtige Punkt bei diesem Vers ist, dass obwohl Gott am Anfang den Propheten anspricht mit den Worten „wenn dich Meine Diener über Mich befragen“, Er diesen Dienern dann selbst antwortet und ihnen sagt: „Ich bin nahe“.
Aus diesem Vers geht hervor, dass die Menschen, auch wenn sie den Propheten über Gott befragen, Er Selbst sie Seiner Nähe und Begleitung versichert und dass Er sogar denjenigen, die Ihn vergessen haben, das Gefühl gibt, dass Er ihnen nahe ist, d. h. Gott hat diese Frage direkt und ohne Vermittlung beantwortet, Er schickt Seine Botschaft nicht durch den Propheten, sondern Er sagt ganz direkt, „Ich bin euch nahe“. Man hat das Gefühl, als wolle Gott den Fragenden sagen: „Warum kommt ihr nicht zu Mir direkt, Ich bin euch doch nahe, und wenn ihr Mich ruft, bin Ich bei euch.“ Dies verleiht der Bedeutung, Wichtigkeit und Stellung des Bittgebetes (Du’a) im Prozess der Verbindung mit Gott Wert. Die besondere Bedeutsamkeit, die der Islam dem Du’a beimisst, resultiert aus dessen Funktion bei der Herstellung dieser Mensch-Gott-Verbindung. Es ist klar, dass Gott dem Menschen sehr nahe ist, aber man muss diese Nähe wahrnehmen und spüren, und das Du’a eröffnet uns diese Möglichkeit und vermittelt uns das Gefühl, dass wir von Gott verstanden und wahrgenommen werden. Bei dem zitierten Qur’anvers möchte Gott zu allen Menschen sagen, dass Er jedem nahe ist, dass Er aber demjenigen antwortet, der Ihn ruft und der Seine Nähe auch wahrnimmt, wie auch Imam as-SaJJad sagte:
Wer Gott direkt anspricht,hat einen sehr viel kürzeren Weg.“
Die Bittgebete vom Menschen sind vom Inhalt und Thema her sehr unterschiedlich, aber abgesehen davon, welchen Inhalt und welches Thema ein Bittgebet hat und was man von Gott erbittet, ist all diesen Gebeten die dadurch hergestellte Verbindung zu Gott gemeinsam. Ein Mensch, der ein Bittgebet spricht, spürt die Nähe Gottes, und er nimmt wahr, dass Gott ihn begleitet und er die Möglichkeit hat, mit Ihm zu reden und Ihm seine Bedürftigkeit kundzutun. Auch wenn die in einem Du’a geäußerten Bitten und Wünsche eines Menschen gemäß den Gesetzmäßigkeiten und Weisheiten der Schöpfung nicht in Erfüllung gehen, so gewinnt diese Person dennoch eine gewisse innere Ruhe. In diesem Sinne ist letztlich jedes Bittgebet von Nutzen, weil der Mensch dadurch mit Gott spricht, und dass er seine Aufmerksamkeit auf Gott richtet impliziert eine Rückkehr zu seiner eigenen wahren Identität und Persönlichkeit.
Ein Mensch, der seine Identität vergessen hat, ist ein nervöser und unsicherer Mensch, und diese Unsicherheit ist tief in seiner Psyche verwurzelt, und er leidet darunter. Ein solches Leiden manifestiert sich z. B. bei jemand, der zwar unter den besten Umständen und im Wohlstand lebt, aber unter der Tatsache leidet, dass er fern von seiner Heimat, seiner Familie und seinen Freunden ist. Ein Mensch, der Gott vergessen hat, ist einem solchen versteckten und geheimen Leiden ausgesetzt, und dieses Leiden begleitet ihn immer und zeigt sich in bestimmten Situationen und Orten in seinem Leben. Das Denken an Gott zügelt dieses Leiden und verleiht dem Geist und der Seele des Menschen eine gewisse Ruhe, die im Qur’an als besondere und außergewöhnliche innere Ruhe bezeichnet wird (vgl. Sure ar-Ra3d, Vers 28 und Sure al-Fath, Vers 4).
Abschließend muss ich aber noch einen wichtigen Punkt erwähnen: Obwohl die Verbindung mit Gott sehr leicht herzustellen ist, nicht begrenzt ist und keines Vermittlers bedarf, muss aber eine Bedingung erfüllt werden, die betont wird und die sehr wichtig ist. Wie bereits hervorgehoben wurde ist eine unerlässliche Bedingung für die Verbindung mit Gott der Wille, das bedeutet der Mensch soll wollen, dass diese Verbindung mit Gott zustande kommt, denn andererseits ist die Verbindung von Gott zum Menschen ewig und unzerstörbar. Diese Bedingung ist deshalb unerlässlich, weil der Mensch aufgrund seiner vielen Sünden und schlechten Absichten einen geistigen und seelischen Zustand erlangt hat, in dem er die Notwendigkeit dieser Bindung an Gott und des Redens mit Gott nicht mehr in sich spürt. Mit anderen Worten: ein solcher Mensch hat sein göttliches Gefühl verloren, und die durch Sünden geschaffenen Hindernisse und Schleier verhindern, dass er seine göttliche Identität wieder finden kann. Dies kann so sehr in Vergessenheit geraten, dass der Mensch eine zweite Persönlichkeit bekommt, die seiner göttlichen Persönlichkeit gänzlich widerspricht, d. h. er hat eine niedrigere Persönlichkeit angenommen, die seine ursprünglich reine und göttliche Persönlichkeit in eine sündige und teuflische Identität verwandelt hat. Für einen solchen Menschen, der in die größte Schwäche und tiefste Stufe versinkt, ist die Sünde keine Nebensache, sondern sie ist vielmehr ein Teil seiner Persönlichkeit geworden, was die Beseitigung der Sünde bei ihm sehr schwer, wenn nicht fast unmöglich macht.
Deshalb beschreibt der Qur’an den Weg zur Reue und Rückkehr zu Gott für alle Menschen in jeder Zeit und jedem Zustand als offen, denn wie bereits beschrieben ist die Nähe Gottes zum Mensch dauerhaft und unzerbrechlich. Ein Mensch jedoch, dessen menschliche Persönlichkeit verunstaltet wurde und der nur noch die Bezeichnung „Mensch“ trägt, hat die Macht und Kraft zur Reue nicht mehr, und wie der Qur’an sagt, haben Sünde und Schlechtigkeit alle Teile seiner Persönlichkeit in einem solchen Maße erobert, dass sie nicht sündig, sondern vielmehr selbst Sünde ist. In einem solchen Zustand wird der Mensch, auch wenn der Weg der Reue und Rückkehr zu Gott offen ist, diesen Weg niemals einschlagen, und folglich bleibt er der Gnade Gottes immer fern (vgl. Sure al-Baqara, Vers 81). Wir wissen, dass die Anzahl dieser Menschen sehr klein und gering ist, und der Mensch nur in einer besonderen Situation in diese niedrige Stufe verfällt. Aber er muss wissen und beachten, dass diese Stufe allmählich und Schritt für Schritt erreicht wird, und demnach jede unserer Verhaltensweisen entscheidend ist.
Das direkte Gespräch des Menschen mit Gott
Eine der wichtigsten islamischen Lehren, die allen abrahamitischen Glaubensrichtungen gemeinsam ist, ist das Gespräch Gottes mit dem Menschen, wobei der sprechende Gott eine direkte Verbindung zum hörenden Menschen hat. Gott spricht zum Menschen, auf dass dieser Ihn erhöre, denn würde er die Worte Gottes nicht vernehmen, hätten diese keinen Nutzen. Sicherlich ist das Sprechen Gottes kein einfaches und gewöhnliches Sprechen, sondern es enthält viele Geheimnisse und Kenntnisse, wie auch mit dem Hören des Menschen nicht das einfache gewöhnliche Hören gemeint ist, sondern ein Hören, das mit Verstehen und Begreifen einhergeht.
Die islamische Lehre sieht den Prozess des göttlichen Sprechens und menschlichen Hörens an diesem Punkt nicht als beendet an, sondern bezieht eine weitere Stufe ein, die definiert und interpretiert wird, nämlich die Stufe, auf der der Mensch antwortet. Wenn der Mensch die göttlichen Worte hört und sie auch versteht und ihren Sinn erfasst, dann muss er notgedrungen darauf reagieren, und es ist genau diese Reaktion, die sein Verständnis von der Botschaft und dem Wort Gottes manifestiert. Reagiert der Mensch mit Schweigen auf die göttlichen Worte, kann man nicht sicher sein, ob er diese wirklich verstanden hat. Spricht der Angesprochene jedoch über das Gehörte, dann bringt er damit sein Verständnis zum Ausdruck. Wenn jedoch der angesprochene Mensch auf das Sprechen Gottes eine Reaktion zeigt, und diese mit Worten zum Ausdruck bringt, dann verdeutlicht dies sein Verständnis, und aus diesem Grund haben einige islamische Denker das Bittgebet (Du’a) als „sich erhebenden Qur’an“ bezeichnet und dem „herabgesandten Qur’an“ gegenübergestellt.
Das Bittgebet ist also nichts anderes als eine Reaktion, die der Mensch auf Seine Botschaft und Sein Wort kundtut, und die seine Kenntnis vom Gotteswort ausdrückt. Wenn jemand Gott seine Bedürfnisse mitteilt, dann impliziert das zugleich, dass man Gott als mächtig und fähig anerkennt; und indem wir Ihm die Geheimnisse unseres Lebens anvertrauen, machen wir deutlich, dass wir in Ihm unseren lieben, mächtigen und wissenden Freund sehen.
Möglicherweise können auch andere Lebewesen und Geschöpfe Gottes das Gotteswort auf eine für sie bestimmte Art und Weise hören, aber nur der Mensch ist in der Lage, das Gehörte zu verstehen, darauf zu reagieren und Gott eine entsprechende Antwort zu geben. In diesem Sinne ist das Bittgebet eine Eigenheit des reflektierenden Menschen im Unterschied zu anderen Lebewesen, die hören, aber keine Antwort auf der Grundlage von Vernunft daraus entwickeln können. Obwohl jedes Lebewesen in seiner jeweils eigenen Art und Weise mit Gott spricht, ist der Dialog mit Gott dem Menschen vorbehalten. Man spricht von Dialog, wenn es zwischen dem Sprecher und dem Hörer eine direkte und ununterbrochene Verbindung gibt. Der Mensch kann als einziges Lebewesen die göttliche Botschaft auf die beste Art und Weise verstehen und deshalb in Form von Bittgebeten die beste Antwort darauf geben, und dies ist die Grundlage des Dialogs zwischen Gott und Mensch.
Der Monat Ramadan bietet die beste Gelegenheit, mit Gott Dialog zu führen, und diese besondere Art des Zwiegesprächs wird in der islamischen Lehre als „Du’a“ (Bittgebet) bezeichnet, wofür die vorliegende Schrift ein Beispiel ist.
Der Gläubige als Gast Gottes
Das Fest des Fastenbrechens ist das größte Fest für uns Muslime. Im Islam gibt es im Laufe des Jahres zwei große und wichtige Feste, nämlich erstens das Fest des Fastenbrechens, Id-ul-Fixr, und zweitens das Opferfest, Id-ul-Adha. Diese beiden Feste werden gefeiert, nachdem man eine Zeit der Bemühung und des Gebetes hinter sich gelassen hat. Das Fest des Fastenbrechens beendet einen Monat des Gastseins bei Gott. Wir sehen, dass keines dieser beiden großen Feste ohne bestimmte Vorbereitung und Anfang als Fest bezeichnet werden kann, sondern diese Feste finden nach Zurücklegung eines Prozesses statt, der in direkter Beziehung zu unseren zuvor vollbrachten Taten, Verhalten und Anbetungen steht. Wenn wir den Wert und die Stellung dieser beiden großen Feste erkennen und uns dessen bewusster werden wollen, sollen wir auf die Vorbereitungen für diese Feste achten.
Das Fest des Fastenbrechens ist das Fest als besonderer Gast bei Gott. Der Mensch hat sein ganzes Wesen und Sein von Gott. In Wirklichkeit ist man in jedem Augenblick im Leben in der Gegenwart Gottes, man sitzt an der göttlichen Tafel und ist Sein Gast. Nun sollen wir sehen, was damit gemeint ist, dass man im Monat Ramadan als besonderer Gast bei Ihm ist? Die Beantwortung dieser Frage bedarf der Erklärung und Untersuchung der Persönlichkeit und des Wesens des Menschen und seiner Verbindung zu Gott. Alle göttlichen Religionen waren und sind darum bemüht, zwischen dem Menschen und Gott eine Verbindung und Beziehung zu schaffen, und den Abstand zwischen ihm und seinem Schöpfer so weit wie möglich zu verringern. Natürlich hat auch der Islam dieses Hauptziel. Aber der Qur’an sieht die Zurücklegung dieser Strecke, d. h. des Abstandes von sich selbst zu Gott, nicht als eine äußerliche und äußere Anstrengung und Bewegung an, sondern aus quranischer Sicht ist diese Reise eine rein innere und verborgene Reise. D. h. ein Mensch, der zu Gott gelangen will, bedarf keiner Anstrengungen und Bemühungen, die außerhalb seines Selbst liegen, sondern es reicht aus, dass er in seinem Inneren diese Reise macht, um sein wahres Wesen und seine wahre Veranlagung zu entdecken. Denn, wie der Qur’an sehr deutlich sagt, hat der Mensch eine göttliche Identität und ein göttliches Wesen, und seine Wahrheit wird durch die Wahrheit Gottes herauskristallisiert, (d. h. die Wahrheit des Menschen wurzelt tief in der göttlichen Wahrheit), wie Gott Selbst mit aller Deutlichkeit den Schatz und das Wesen des Menschen darstellt: „Ich habe Meinen Geist in den Menschen eingehaucht.“ (Vgl. Sure al-hijr, Vers 29 und Sure sÁd, Vers 72).
In dem Moment, in dem der Mensch in eine materielle Welt hineingeboren wird, ist er bestimmten materiellen Voraussetzungen und Notwendigkeiten unterworfen (d. h. allen Besonderheiten und Eigenschaften der materiellen Welt). Dies wird wie ein Gewand für ihn, das seinen Körper verhüllt und dieses göttliche Wesen und die göttliche Wahrheit bedeckt (d. h. die göttliche Identität und Wahrheit des Menschen wird in den Besonderheiten der Materie versteckt und verhüllt). Das macht eigentlich das materielle und äußerliche Ichsein des Menschen aus. Ab diesem Moment soll der Mensch versuchen, mittels Bewusstsein und Willen den Abstand zwischen dem äußerlichen und dem wahren Ich zu überwinden. Diese Bewegung und Betrachtung ist dem Willen und der Freiheit des Menschen vollkommen unterworfen, d. h. es gibt sogar Menschen, die kein Interesse daran haben und bevorzugen, ihr Leben bis zum Ende mit dem äußerlichen Ich zu verbringen und das wahre Ich weiterhin versteckt zu lassen.
Aus qur’anischer Sicht bestand das Engagement der Propheten darin, mittels Bewusstsein und Aufklärung den Menschen hinreichend Motivation und Anregung für diese Bewegung zu verleihen, d. h. die Bewegung vom äußerlichen Ich zur Erkenntnis und Erreichung des wahren Ich. In diesem Fall gibt es keine Notwendigkeit für das Zurücklegen des Weges von sich selbst zu Gott; d. h. die Erreichung des wahren Ichs ist die Erreichung Gottes. Deshalb gleicht aus der Sicht des Qur’an und der Lehren des Propheten des Islam (s.a.s.) die Selbsterkenntnis der Gotterkenntnis, und Gottvergessenheit gleicht der Selbstvergessenheit. Der Prophet des Islam sprach: „Wer sich selbst erkennt, der hat seinen Gott erkannt.“, und der Qur’an sagt ebenfalls in aller Deutlichkeit: Diejenigen, die Gott leugnen, haben sich selbst vergessen. (Vgl. Sure al- hashr, Vers 19). Die Erreichung des wahren Ichs ist nichts anderes als die Erreichung Gottes. Das Wiedererkennen der göttlichen Identität und des göttlichen Wesens bewirkt, dass der Mensch mit göttlichen Eigenschaften geschmückt wird, wie der Prophet des Islam (s.a.s.) alle eingeladen hat:
„Ihr sollt euch mit göttlicher Ethik verschönern.“
Das ist ein Ziel, für dessen Erreichung sich ein Mensch sein ganzes Leben lang und an allen Tagen seines Lebens bemühen soll. Aber der Monat Ramadan ist eine besondere Ausnahmegelegenheit, bei der die Möglichkeit für eine schnelle Zurücklegung dieses Weges gegeben und vorbereitet ist. Gott hält seinen Gast im Monat Ramadan von Eigenschaften fern, die für das äußerliche bzw. materielle Ich notwendig sind. Trinken, Essen, Schlafen, die Feindschaft miteinander usw. sind Eigenschaften, die man aufgeben und durch göttliche Eigenschaften ersetzen soll. Fasten, die Nächte wach bleiben und beten, die Freundschaft zueinander, Bedürftigen zu helfen und die Speisung der Mittellosen usw. sind allesamt Erscheinungen der göttlichen Eigenschaften im Monat Ramadan, mit denen der Mensch sich schmücken soll. Und nun, beim Fest des Fastenbrechens, feiert man, weil man diesen Prozess und Weg, d. h. bei Gott zu Gast zu sein, erfolgreich zurückgelegt hat und durch diese Anstrengung die göttliche Veranlagung, das göttliche Wesen und die Nähe Gottes erreicht und sich mit göttlichen Eigenschaften geschmückt hat.
Das Fest des Fastenbrechens ist das Fest der Veranlagung und Rückkehr zum göttlichen Wesen. Das Fest des Fastenbrechens ist das Fest, dass der Mensch ein göttliches Wesen wird, und wir lernen und erinnern uns, dass alle Menschen die gleiche Wahrheit beinhalten und beanspruchen, und dass unser Wesen ein göttliches Wesen ist. Kein Mensch hat einen Vorteil gegenüber dem anderen Menschen und soll nicht bevorzugt werden. Die Freundschaft zueinander bedeutet Freundschaft zu sich selbst und zu Gott.
Beim Fest des Fastenbrechens lernen wir und erinnern uns daran, dass Friede, Freundschaft und Liebe zwischen Menschen weder eine Taktik ist noch eine gesellschaftliche oder weltliche Notwendigkeit, die aus dem Sinn und den Vorteilen der menschlichen Gesellschaft resultiert, sondern der Frieden hat seine tiefe Wurzel in unserer göttlichen Identität und unserem göttlichen Wesen, und das ist eine Notwendigkeit der Schöpfung und des göttlichen Willens im Hinblick auf uns.