Das menschliche Recht auf Wissen und Bewusstsein
Zunächst möchte ich Ihnen zum Geburtstag des Propheten der Barmherzigkeit, Muhammad (s.a.s.), und zum Geburtstag von Imam Djafar Sadegh (a.s.), dem Begründer der schiitischen Rechtsschule, herzlich gratulieren.
Die Ausführungen der letzten Freitagsansprache bezüglich der zu den rationalen Verpflichtungen zählenden religiösen Pflichten ohne äußerlichen Zwang fortführend, möchte ich die Frage der Freiheit näher beleuchten. In diesem Kontext stellt sich zunächst die Frage, ob und wie die menschliche Willensfreiheit im Islam begrenzt wird
und zwar zum einen im Hinblick auf die innere Dimension, das Gewissen, und andererseits hinsichtlich der äußerlichen Ebene der Gesellschaft.
Bezüglich des Gewissens gibt es keinerlei Einschränkungen. Freiheit bedeutet die Fähigkeit, alle Bedürfnisse befriedigen zu können, ohne dass irgendein äußerer Faktor darauf einwirken kann. Wenn wir also von vielfältigen Bedürfnissen sprechen und davon ausgehen, dass diese nicht auf die materielle und sinnliche Dimension beschränkt sind, impliziert das keineswegs, dass die geistigen und immateriellen Neigungen eingrenzend wirken dürfen, sondern vielmehr, dass diese Bedürfnisse des Menschen genauso zu seinem Wesen und seiner Natur gehören wie alle anderen. Wenn dem Menschen gesagt wird, dass er nicht nur reine Materie ist, sondern ihn über seine materiellen und physischen Aspekte hinaus auch Emotionen, Liebe, Vollkommenheit, Schönheitsempfinden usw. prägen, resultiert das nicht in einer Begrenzung seiner Freiheit, sondern weitet ihm vielmehr den Horizont für die Vielseitigkeit und Weite seiner eigenen Existenz, die nicht eindimensional und begrenzt ist wie das Sein von Tieren, unbelebten Körpern oder auch Engeln.
Aus der Sicht des Islam sind mit Ausnahme des Menschen alle Geschöpfe, angefangen bei den unbelebten Körpern bis hin zu den Engeln, eindimensional. Die Engel kennzeichnet z. B. eine himmlische und übernatürliche Identität, die ohne jegliches Bewusstsein von den irdischen materiellen Bedürfnissen ist. Im Gegensatz dazu unterliegen die Tiere völlig ihren materiellen und instinktiven Anlagen und haben keinerlei Verständnis von geistigen oder höheren Neigungen gleich welcher Art. Einzig der Mensch ist ein Konglomerat beider Aspekte und kann durch die Schaffung einer harmonischen Ausgewogenheit einen einzigartigen Rang erreichen. Weder Tiere noch Engel sind vollkommen und fehlerfrei, sondern nur der Mensch genießt eine herausragende Stellung in der Schöpfung, weil er die beiden Ebenen von Gut und Böse, Hässlichkeit und Schönheit usw. kennt. Eine qur’anische Metapher beschreibt die Erschaffung der Lebewesen durch Gott mit einer Hand, während Er den Menschen mit beiden Händen erschuf. Als Iblis sich weigert, sich auf Gottes Geheiß vor dem Menschen niederzuwerfen, fragt ihn Gott, warum er sich weigert, sich vor etwas niederzuwerfen, dass Er mit Seinen beiden Händen erschaffen hat, und als Iblis sich für besser als der Mensch erklärt, verflucht ihn Gott.[1]
Die beiden Hände symbolisieren die materielle irdische und die spirituelle himmlische Dimension, die augenscheinlich nicht zusammen passen. Der Qur’an beschreibt an anderer Stelle die Vollkommenheit und Zweidimensionalität des Menschen, denn einzig und allein der Mensch kann alle Eigenschaften Gottes in sich vereinen, während die anderen Geschöpfe nur einige der Eigenschaften Gottes haben. Deshalb ist der Mensch auch Statthalter Gottes auf Erden[2], dem alle Namen gelehrt wurden.[3] Die Zweidimensionalität des Menschen gewährt ihm Willensfreiheit. Freiheit und Willen sind aber nur dann von Bedeutung, wenn man die Kraft und Kapazität hat, sie zu benutzen. Weder sind die Engel fähig, sich sinnlichen Trieben hinzugeben, noch haben Tiere die Möglichkeit, über ihre Körperlichkeit hinauszuwachsen; der Mensch hingegen ist dazu in der Lage, und aus diesem Grunde steht er über all diesen Wesen und erlangt einen Rang, der mit göttlichen Erwartungen und der Verantwortung gegenüber Gott verbunden ist, die kein anderes Geschöpf teilt. Diese Zweidimensionalität erhebt den Menschen nicht nur über alle anderen Wesen, sie unterscheidet ihn auch von ihnen. Wenn ihm nur ein Weg offen stünde, hätte er keine Möglichkeit zur Wahl und zur freien Entscheidung. Seine Fähigkeit zur Erkenntnis impliziert folglich Entscheidung und Wahl auf der Grundlage von Bewusstsein.
Hier wird die mit der Entsendung der Propheten und der Offenbarung der Heiligen Schriften verbundene Philosophie offenbar: Die Propheten kamen niemals, um den Menschen seiner Freiheit zu berauben, oder ihm irgendeinen Zwang aufzuerlegen. Mittels der Offenbarung soll vielmehr das menschliche Bewusstsein geweckt werden, dass ihn zur besten Wahl führen soll. Gemäß der islamischen Sichtweise ist der Mensch mit einer reinen Natur erschaffen worden, d. h. er ist von seinem Wesen her weder schlecht noch ein Sünder, sondern er liebt von vornherein das Gute, eine Tendenz, die es zu entwickeln und zu fördern gilt, denn ungeachtet dessen verfügt er über die Freiheit, sich für das Gute oder Schlechte zu entscheiden. Genauso wie ein Pflanzenkeim in der Erde ohne Pflege und Bewässerung nicht zu einer Pflanze oder einem Baum heranwächst, braucht auch das „Korn“ der reinen Natur des Menschen Rechtleitung und Pflege, damit es gedeihen und Früchte tragen kann.
Erziehung bedeutet also, die nach Vollkommenheit strebende Natur des Menschen zu entwickeln, wobei er sich mit zwei Problemen konfrontiert sieht: Er weiß oft nicht, mit welcher der verschiedenen Möglichkeiten, die sich ihm bieten, er seine Bedürfnisse wirklich befriedigen kann. Andererseits fühlt er sich manchmal nicht nur vom Guten, sondern auch vom Schlechten oder seiner materiellen und animalischen Seite angezogen. Der Erfolg des Menschen besteht also darin, dass er das Gute und Schöne erkennt und die Anziehung des Guten in sich verstärkt, damit sie die Anziehung des Schlechten überwiegt. Es genügt nicht, dem Menschen nur Rechte und Freiheiten einzuräumen, sondern er muss auch Erkenntnis und Bewusstsein erlangen. Ein Kind verfügt im Unterschied zum Erwachsenen noch nicht über einen Grad an Bewusstsein und Wissen, dass ihm stets einen vorteilhaften Gebrauch seiner Freiheiten ermöglicht, so dass ihm seine Freiheiten durchaus zu seinem eigenen Nachteil oder Schaden gereichen können.
Bevor wir also über verschiedene Rechte des Menschen sprechen, müssen wir ein Grundrecht thematisieren: das Recht auf Wissen und Bewusstsein. Der Qur’an bezeichnet eine solche Haltung mit dem Begriff „ruschd“. Wenn der Mensch nicht weiß, wie er seine Rechte einsetzen kann, nützen ihm weitere Rechte nichts.
Vor allem Eltern und Lehrer müssen die Bewusstseinsbildung und Reife des Kindes fördern und ihm eine Erziehung angedeihen lassen, die ihm eine richtige Nutzung seiner Freiheiten ermöglicht. Niemand wird Eltern dafür tadeln, dass sie ihr Kind vor dem Sturz ins Feuer bewahren. Hier stellt sich die Frage, warum Eltern die Freiheiten des Kindes einschränken können ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden? Wie bereits erwähnt, ist Freiheit ein menschliches Grundrecht, das allen von Geburt an zusteht; ein Kind hat jedoch auch ein Recht auf Wissen und Bewusstsein, was zuweilen nur mittels einer Begrenzung seiner Freiheit zu gewährleisten ist. Bewusstsein und Erkenntnis sind kein Hindernis für die Freiheit des Menschen, sondern zeigen ihm vielmehr die richtige Nutzung seines Rechtes auf.
Der wichtigste Unterschied zwischen den Menschenrechten aus der Sicht des Islam und nichtgöttlichen (materialistischen) Denkschulen besteht darin, dass der Islam den Menschen als erziehungsfähig definiert. Seine Erziehung soll ihm nicht nur das Recht auf Freiheit vermitteln, sondern auch das Recht auf Wissen, Bewusstsein und Entwicklung realisieren, weil sie die Grundlage für alle anderen Rechte darstellen.
Wie ich in früheren Ansprachen bereits erwähnt habe, stellen die religiösen Pflichten und Gebote keine Einschränkungen für die Freiheiten des Menschen dar, sondern bringen vielmehr die Wahrheiten der Schöpfung und des Seins zum Ausdruck. Es handelt sich hier um Wahrheiten, die der Mensch erkennt und die ihm Verantwortung abverlangen. Göttliche Verpflichtungen gründen im Bewusstsein, so dass die Begriffe Gebot und Verbot, die immer Zwang implizieren, nicht angebracht sind. Die religiösen Pflichten sind in diesem Sinne Wahrheiten, die dem Menschen den Weg zur Glückseligkeit weisen, ihn einladen, diesen Weg zu beschreiten und ihn keinem Zwang unterwerfen. Folglich ist die göttliche Strafe nichts anderes als die natürliche Folge eines falschen Weges und der Handlungen des Menschen.[4]
Ein bewusster Mensch erkennt seine Freiheit stets im ethischen und tugendhaften Verhalten, und erstrebt mittels Bewahrung seiner menschlichen Identität und deren Entwicklung Rechtleitung und Glückseligkeit; niemals wird er seine Freiheit auf einem Wege nutzen, der ihn der Vernichtung preisgibt.
Der Unterschied zwischen gläubigen und ungläubigen Individuen und Gesellschaften besteht nicht in Freiheit bzw. Unfreiheit, sondern in der Frage, wozu diese Freiheit benutzt wird. Aus islamischer Sicht müssen alle Hindernisse der Bewusstseinsbildung beseitigt werden, ohne den Menschen die Freiheit zu nehmen. Sie sollen den Weg zum Erfolg selbst erkennen und so ihre Freiheit richtig nutzen. Heutzutage ist in manchen freien und demokratischen Gesellschaften gelenkte Werbung und Propaganda an die Stelle dieser Bewusstseinsbildung getreten, und obwohl ständig von Freiheit die Rede ist, werden die Menschen mit selektierten Informationen bombardiert, in eine bestimmte Richtung gedrängt und letztlich manipuliert. In solchen Gesellschaften ist Freiheit nur eine leere Parole. Dem Menschen bleibt letztlich nichts anderes übrig, als der von den Massenmedien vorgezeichneten Darstellung zu folgen. Hier verliert ein Begriff wie „freie Wahl“ völlig seine eigentliche Bedeutung. Wahl bedeutet aber, einen von vielen verschiedenen Wegen einzuschlagen. Bewusstseinsbildung will den Verstand des Menschen ansprechen, Propaganda will ihn manipulieren. Propaganda und Werbung sprechen Sensationslust und Gefühle des Menschen an und nehmen ihm die Entscheidungsfreiheit. Es steht ihm frei, gezwungen zu sein. Im Islam hat auch die Verbreitung der Ideen einen bewusstseinsbildenden Charakter, denn der Verstand des Menschen wird angesprochen und nicht sein Gefühl. Deshalb stellt der Qur’an auch unmissverständlich fest, dass manche Menschen nach ihrer Bewusstseinsbildung den rechten, andere aber den falschen Weg einschlagen (vgl. Sure al-Insan, Vers 3).
[1] Vgl. Qur’an, Sure Sad, Verse 71-78.
[2] Ebd., Sure al-Baqara, Vers 30.
[3] Ebd., Vers 31.
[4] Vgl. Qur’an, Sure al-Baqara, Vers 256, und Sure al-Insan, Vers 3.