Einleitende Bemerkung zur Bedeutung des Ausdruckes „europäischer Islam“
Die Begegnung des Islam mit der Kultur der Gahiliya
Der Islam ist in einer solchen Gesellschaft, d. h. in einer Gesellschaft mit der Kultur und Moral der cahilÍya erschienen, und deshalb war seine wesentliche Aufgabe die Bekämpfung dieser Kultur und das Bewirken von Veränderung und Wandel in Elementen dieser Gesellschaft in aller Deutlichkeit. Der Islam hat der Parole „al-harb“ d. h. Krieg, „Islam“ und „al-solh al-hayr“ d. h. „der Frieden ist besser als alles“ gegenübergestellt.
[1] Statt Sklaverei und Rassismus hat er mit aller Deutlichkeit die Gleichheit und gemeinsame menschliche Persönlichkeit aller Menschen betont, er hat die geschlechtsspezifische Sichtweise des Menschen verneint und Frau und Mann als von einem menschlichen und gleichen Wesen und vom gleichen Schatz geschaffen erklärt, wie in Sure al-hucurat, Vers 13, geschrieben steht: „O ihr Menschen, Wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander erkennen möget….“ (Deshalb verursachen Rasse und Nationalität keinen Vorteil für den einen oder anderen, sondern nur diejenigen, die fromm sind, sind bei Gott angesehen.). Der Prophet des Islam (Friede sei mit ihm) hat gesagt: „O Menschen, unsere Eltern sind eins, und kein Volk und keine Rasse hat einen Vorteil gegenüber einem anderen Volk oder einer anderen Rasse, weder die Weißen gegenüber den Farbigen, noch die Farbigen gegenüber den Weißen, weder Araber gegenüber Nichtarabern, noch Nichtaraber gegenüber Arabern.“ Wenn sich die Frage von Rache stellte, hat er nicht nur das Verzeihen hervorgehoben, sondern mit aller Deutlichkeit erklärt, dass das Zeichen des Glaubens darin liegt, das Gute zu wiederholen, damit man die Wurzel der schlechten Dinge beseitigt, wie in Sure ar-Raad, Vers 22, und in Sure al-Qasas, Vers 54, geschrieben steht: Wissende Menschen versuchen, mit guten Taten das Schlechte zu verhindern und zu beseitigen.[2] Angesichts von Überschreitungen und Ignorierung der individuellen und gesellschaftlichen Rechte der Menschen betonen sie ernsthaft die Gerechtigkeit und die Berücksichtigung der Rechte der anderen und sehen das als notwendige Voraussetzung für Gottesfurcht an: …Seid gerecht, das ist der Gottesfurcht näher.“ (Sure al-MÁ’ida, Vers 8).
In einer historischen Überlieferung, die von der Begegnung des Propheten des Islam mit zwei führenden Persönlichkeiten des Stammes Chasradsch (dem größten nichtmuslimischen Stamm) berichtet, werden die Hauptelemente seiner Einladung und Botschaft in zwei Versen des Qur’an erwähnt (vgl. Sure al-Anam, Verse 151 und 152): O Prophet, sprich zu den Menschen: ‚Kommt her, ich will euch erklären, was Gott euch verboten hat. Ihr sollt niemanden neben Gott stellen und zu euren Eltern gütig sein, und ihr sollt eure Kinder nicht wegen Armut töten. Wir werden euch und sie ernähren. Und ihr sollt euch keinen Schändlichkeiten nähern. Und ihr sollt keinen Menschen, der Gott ehrt, töten, es sei denn, er hat es verdient. Das ist etwas, zu dem Gott euch einlädt. Vielleicht versteht ihr. Ihr sollt euch nicht dem Reichtum der Waisen nähern, es sei denn zu ihrem Besten, bis sie volljährig sind.
Zweifellos leiden viele Dinge, die als islamische Lehre oder islamisches Verständnis und Interpretation des Qur’an dargestellt werden, unter der Gefahr der Vermischung mit kulturellen Sitten und Traditionen.
Und berücksichtigt volles Maß und Gewicht in Gerechtigkeit. Wir belasten niemanden über das hinaus, was er zu leisten vermag. Wenn ihr redet, sollt ihr Gerechtigkeit üben, auch wenn es einen nahen Verwandten betrifft, und bleibt dem Vertrag mit Gott treu. Das ist etwas, was Gott euch empfiehlt, damit ihr euch an eure Verantwortungen erinnert.’“ Wie Sie sehen, werden in diesen Versen moralische Werte sehr hervorgehoben, Werte, die in der damaligen Gesellschaft in Vergessenheit geraten waren.
Der Qur’an und der Prophet des Islam haben bei der Bekämpfung und Negierung der Kultur der Torheit viele Erfolge gehabt. In Wirklichkeit war jedoch die historische Verwurzelung dieser Kultur in der gesellschaftlichen und individuellen Moral der Leute so beherrschend, dass sie sich im Prozess des anfänglichen Verstehens und der Interpretation des Qur’an bedauerlicherweise aufgedrängt hat. Man kann mit Sicherheit sagen, dass viele Interpretationen und Offenbarungsanlässe, die für manche Qur’anverse angeführt wurden, dieser Gefahr ausgesetzt waren, d. h. der Gefahr der Beeinflussung von der aus der Zeit der Torheit verbliebenen gesellschaftlichen und individuellen Moral. Aus diesem Grund kann man das Verständnis der vom Qur’an anfänglich Angesprochenen, d. h. die Gefährten des Propheten (sahabah) und diejenigen, die diese Gefährten kannten, den Propheten jedoch nicht mehr erlebten (tabeın), nicht absolut und bedingungslos als gültigen Beweis bei der Interpretation der Qur’anverse heranziehen,[3] denn man kann niemals sicher sein, dass diese Leute die Qur’anverse frei von den äußerlichen Einflüssen und der Tradition und Kultur ihrer Zeit so verstanden haben, wie der Hauptverkünder selbst sie verstanden wissen wollte. Die Einmischung und Beeinflussung des Verstehens und der Interpretation der qur’anischen Verse von Stammeskulturen und traditionen bezieht sich nicht nur auf die anfänglich Angesprochenen des Qur’an, sondern dieser Prozess hat sich in den späteren Epochen mehr oder weniger fortgesetzt.
Zweifellos leiden viele Dinge, die als islamische Lehre oder islamisches Verständnis und Interpretation des Qur’an dargestellt werden, unter dieser Gefahr der Vermischung. Deshalb muss man Mut zeigen und sich bemühen, den Prozess der Reinigung und Differenzierung mit aller Ernsthaftigkeit zu verfolgen.
Verständnis und Harmonie des Islam mit unterschiedlichen Kulturen der Gesellschaften
Ein wichtiger Punkt, der im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen den islamischen Lehren und der Interpretation der qur’anischen Verse und den Kulturen und Traditionen von Gesellschaften und Stämmen beachtet werden muss, besteht in dem, was wir kritisieren und als unwahr erklären, nämlich das Aufzwingen von Õraditionen auf die Qur’anverse und die Gleichstellung dieser Traditionen mit Geboten und islamischen Lehren. Es muss beachtet werden, dass einige islamische Gebote beim Praktizieren und nicht beim Verstehen und der Interpretation mit Sitten und Werten der unterschiedlichen Gesellschaften ver-mischt und damit in Einklang gebracht werden, und das ist eine Wahrheit, die man nicht in Frage stellen kann. Diese Einbeziehung und Vermischung geschieht auf zweierlei Weise:
1. In manchen Fällen, insbesondere im gesellschaftlichen Bereich, kommt es vor, dass der Islam keine Empfehlung oder besondere Lehre hat, d. h. er hat sich darüber nicht geäußert, sondern hat Stillschweigen bewahrt. In solchen Fällen sieht er die Traditionen und gesellschaftlichen Werte als Grundlage und Maßstab der Anwendung an.[4]
Die Bedeutung dieser Differenzierung und Trennung von qur’anischen Vorschriften und gesellschaftlich-kultu-rellen Traditionen liegt darin, dass man die islamischen Lehren und Gebote in solchen Fällen aus dem begrenzten Anspruch eines bestimmten Volkes oder einer bestimmten Kultur herausnimmt und ihnen eine Flexibilität verleiht, die sie mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Kulturen und Strukturen kompatibel sein lassen.
2. Fälle, in denen die Gebote und islamischen Lehren grundsätzlich erklärt wurden, die Form der Umsetzung aber nicht genau bestimmt wurde und folglich jede Form und Gestalt ein bestimmtes Ziel bewahren kann. Zu dieser Form von Geboten gehört z. B. das Prinzip der islamischen Bekleidung (hijab), d. h. dass Frau und Mann in der Öffentlichkeit eine entsprechende Bekleidung tragen und sich jeder Art der Blöße fernhalten sollen. Das ist ein islamisches und qur’anisches Gebot. Aber welche Form und welches Aussehen diese Bekleidung haben soll, ist eine gänzlich kulturelle Angelegenheit, die sich den Werten und Strukturen der verschiedenen Gesellschaften anpassen soll. Deshalb verursacht hier das Einhergehen der qur’ani-schen Gebote mit gesellschaftlich-kulturellen Strukturen kein Problem. Aber diese zwei Dinge darf man nicht miteinander vermischen, und man darf kulturelle Angelegenheiten nicht als islamische Lehren vorstellen, sondern es ist geboten, beides voneinander zu trennen.
Die Bedeutung dieser Differenzierung und Trennung liegt darin, dass man die islamischen Lehren und Gebote in solchen Fällen aus dem begrenzten Anspruch eines bestimmtes Volkes oder einer bestimmten Kultur herausnimmt und ihnen eine Flexibilität verleiht, die sie mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Kulturen und Strukturen kompatibel sein lassen. Aus dieser Sicht unterscheiden sich ein arabischer, persischer, afrikanischer oder europäischer Muslim im Hinblick auf das Muslimsein und die Berücksichtigung der islamischen Gebote nicht voneinander. Aber hinsichtlich ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Werte und der Umsetzung vieler dieser Gebote weisen sie deutliche Unterschiede voneinander auf, und diese Unterschiede bestimmen die besondere Identität und Persönlichkeit eines jeden von ihnen. Wenn vom Einheimischwerden des Islam in der europäischen Gesellschaft oder dem europäischem Islam die Rede ist, kann man in aller Deutlichkeit auf diese zwei Arten (die miteinander vermischt sind) verweisen und darauf aufmerksam machen.
Hier sehen wir, dass diese Vermischung von Geboten und islamischen Lehren und den Qur’an Interpretationen in keinem dieser beiden erwähnten Fälle ein Aufzwingen dieser Kulturen und gesellschaftlichen Werte auf das Wesen der Gebote und Lehren oder ihre Beteiligung beim Verstehen und der Interpretation des Qur’an bedeuten, sondern diese Vermischung und dieses Einhergehen ist genau definiert und findet in einem unabhängigen Bereich statt. Anders gesagt: Diese Vermischung impliziert das harmonische miteinander Einhergehen von zwei unabhängigen Identitäten (d. h. die islamischen Gebote und kulturellen Werte haben jeweils eine unabhängige und voneinander getrennte Identität, zwischen denen jedoch Harmonie und Verständnis vorhanden sind, und keine von beiden verneint oder lehnt die jeweils andere ab). Man darf sich für diese beiden niemals eine einheitliche Identität vorstellen, d. h., wenn eine von diesen beiden auftritt, muss die andere nicht unbedingt ebenfalls präsent sein.
Die Gleichstellung von Islam und Kultur ist genau der große Fehler derjenigen, die die Absicht hatten und haben, dass die kulturellen Werte einiger islamischen Gesellschaften in der Vergangenheit und der Gegenwart im Namen des Islam und des Qur’anverständnisses auf alle Muslime in allen Gesellschaften übertragen werden. Das Ergebnis einer solchen falschen Sichtweise wäre z. B. das Muslimsein in einer westlichen Gesellschaft mit arabischer, türkischer oder persischer Kultur. Bedauerlicherweise sind die Zeichen dieser falschen Sichtweise nicht nur unter gewöhnlichen muslimischen Menschen, sondern auch bei einigen Gelehrten, Wissenden und sogar muslimischen Intellektuellen zu sehen. So können wir z. B. beobachten, dass manche arabische muslimische Schriftsteller und Denker das islamische Denken noch immer mit dem arabischen Denken gleichsetzen, und sie nutzen die Besonderheit der arabischen Sprache des Qur’an und des Ausgangsortes des Islam (d. h. dass der Islam auf der Arabischen Halbinsel entstanden ist) und des islamischen Denkens dazu, um den Islam mit der arabischen Kultur und Tradition gleichzusetzen.
Hier erscheint es angemessen, auf die Sichtweise des europäischen Muslims Prof. Henri Corbin hinzuweisen, der eine umfassende Kenntnis vom islamischen Denken hatte und jede Art der Gleichsetzung von islamischem Denken mit der Kultur der islamischen Gesellschaften, insbesondere der arabischen Gesellschaft, ablehnte. Er sagt: Die arabische Sprache ist die Sprache des Qur’an und die Sprache der Anbetung (im Islam). Die arabische Sprache ist ein Instrument und Werkzeug, derer sich das arabische Volk – wie jedes andere Volk sich seiner jeweiligen Sprache – für die Äußerung der Begriffe bedient, und es ist eine der lebendigsten und fruchtbarsten Literaturen der Welt. D. h. diese Art der erörterten Literatur wurde im Rahmen der arabischen Sprache gestaltet. Aber die Bedeutung der Begriffe von Stämmen und Ethnien haben sich mit der Zeit geändert. Heutzutage kann man die religiöse Bedeutung von „Islam“ nicht prinzipiell mit einem ethnischen Begriff gleichsetzen; und man kann auch die ethnischen und nationalen Begriffe, die nichtreligiöse Begriffe sind, nicht auf den Islam begrenzen.[5]
Genauso wie dieser muslimische Franzose zu Recht erwähnt, sind die Begriffe und Werte, die jeder Gesellschaft und Nation grundsätzlich ihre Identität verleihen, unreligiöse Begriffe, die man nicht mit religiösen Begriffen gleichsetzen kann.
Aber gleichzeitig sind diese gesellschaftlichen und nationalen Werte und Begriffe nicht nur nichtreligiös und gegen Religion an sich, und deshalb besteht in jeder Gesellschaft die Möglichkeit zu dieser Übereinstimmung mit den religiösen Begriffen und diesem Verständnis.
Wo von europäisch die Rede ist, kann man genau auf diese zwei Bestandteile (d. h. diese zwei miteinander vermischten Teile) verweisen, und es ist nur natürlich, wenn in manchen Fällen, in denen die allgemeinen Gebote und die wahre islamische Lehre mit manchen kulturellen Sitten und gesellschaftlichen Werten vermischt werden, es für europäische Muslime die Kultur und die gesell-
Deshalb haben die Muslime, egal wo und in welcher Gesellschaft sie leben, ungeachtet ihrer einheitlichen und gemeinsamen islamischen Identität, die auf gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und Verhaltensweisen gründet, die letztlich aus islamischen Geboten und Lehren resultieren, unterschiedliche Kulturen und Strukturen entsprechend der Gesellschaft, der sie angehören.
schaftlichen Werte der europäischen Gesellschaft sind, die an diesem Austausch teilhaben sollen, und nicht die Kultur und Struktur anderer islamischer Gesellschaften. In diesem Fall darf man niemals importierend vorgehen. Deshalb haben die Muslime, egal wo und in welcher Gesellschaft sie leben, ungeachtet ihrer einheitlichen und gemeinsamen islamischen Identität, die auf gemeinsamen Glaubensüberzeugungen und Verhaltensweisen gründet, die letztlich aus islamischen Geboten und Lehren resultieren, unterschiedliche Kulturen und Strukturen entsprechend der Gesellschaft, der sie angehören. Dieser Erwartung entspricht selbstverständlich, dass der arabische, türkische, persische, afrikanische und europäische Muslim eine gemeinsame islamische Identität haben und sie in der Treue zu den islamischen Lehren und Geboten gleich sind.
Aber man kann niemals die Erwartung haben, dass der europäische Muslim den kulturellen Rahmen, den die anderen Muslime praktizieren, nachahmt. Zweifellos weist der europäische Muslim aufgrund der Tatsache, dass er der europäischen Gesellschaft mit ihrer speziellen Struktur und Kultur angehört, zu anderen Muslimen in anderen Gesellschaften gewisse Unterschiede auf. Deswegen habe ich wiederholt betont, dass man in Europa an die europäischen Muslime denken muss und nicht an Muslime in Europa.[6]
Anmerkungen:
[1] Sure an-Nisa’ (4), Vers128.
[1] Bei der deutschen Übersetzung für „yadra’un“ wird normalerweise der Begriff „abwehren“ benutzt. Das ist ein passendes Äquivalent. Man muss nur den Punkt beachten, dass das Wort „abwehren“ unterschiedlich benutzt wird, und dass es zuweilen sogar die Bedeutung von „beseitigen“ und „Beseitigung“ hat. Diese beiden letzten Worte bedeuten „etwas ausrotten“ und man muss berücksichtigen, dass in der arabischen Sprache zwischen den drei Begriffen Beseitigung, abwehren und ausrotten genaue und grundsätzliche Unterschiede vorhanden sind. Für den ersten Begriff benutzt man das Wort „raf“, und für die beiden nächsten Worte den Begriff „daf“. Das Wort „dar“ hat ebenfalls die gleiche Bedeutung wie „daf“. „Raf“ benutzt man z. B. beim Befreien der Erdoberfläche von Unkraut. Aber „daf“ bedeutet, dass man bestimmte Maßnahmen trifft, damit solches Unkraut überhaupt nicht wächst, oder wenn es wächst, dass es ausgerottet wird und nicht erneut wächst.
Der Qur’an hat als Antwort auf Schlechtigkeiten das Gute betont und
hat den Begriff „dar’“ d. h. ausrotten, benutzt. D. h. „dar’“ unterscheidet sich von „raf“, d. h. die Ausrottung der Schlechtigkeiten und die Beseiti-
gung der Möglichkeit, dass sich das nochmals wiederholt, durch Wiederholung der guten Taten; d. h. eine gute Tat soll nicht ein- oder zweimal wiederholt werden, sondern sie soll so oft wiederholt werden, dass das nochmalige Erscheinen der Schlechtigkeit völlig beseitigt wird. Deshalb sagt der Qur’an hier nicht, dass man die Schlechtigkeit mit guten Taten beantworten soll, sondern vielmehr, dass man die Schlechtigkeit mit mehrmaligen guten Taten ausrottet. Deshalb erscheint aus dieser Sicht der deutsche Begriff „abwehren“ als passendes Äquivalent für den Begriff „dar’“ unter der Bedingung, dass man darauf achtet, dass Abwehren hier in der Bedeutung von „daf“ benutzt wurde und nicht in der Bedeutung von „raf“. In der deutschen Sprache wird der Begriff „raf“ normalerweise im Sinne von „Beseitigung“ benutzt, und wenn man etwas mit der Wurzel beseitigen will, gebraucht man den Begriff „entfernen“ oder „ausrotten“. Aber in Wirklichkeit werden in vielen Fällen diese genauen und entscheidenden Unterschiede nicht berücksichtigt, und jedes Wort wird für das andere Wort benutzt. Bei der Übersetzung des Qur’an muss man jedoch darum bemüht sein, die Absicht und das Ziel des Sprechers festzustellen, und deshalb ist die Beachtung dieser entscheidenden Unterschiede sehr wichtig.
[1] Den Aspekt des „anfänglichen“ Verständnisses von heiligen Quellen gibt es in allen Religionen, und er ist von grundlegender Bedeutung. So gründet z. B. das heutige Christentum auf dem ursprünglichen Verstehen und der Interpretation der Jünger Jesu und derjenigen, die ihn verstanden haben.
Im Islam wurde diese Frage in unterschiedlichen Formen und Kontexten untersucht, wobei einer der wichtigsten Aspekte die Teilhabe des anfänglichen Verstehens der Offenbarungsanlässe war. Es gibt viele historische Überlieferungen von Prophetengefährten, die Begriffe und auch Verse interpretiert haben (d. h. sie haben die Verse erklärt und dafür äußerliche und objektive Beispiele genannt). Diese Überlieferungen wurden von dem Propheten nahe stehenden Personen weitergegeben, d. h. denjenigen, die die anfänglich Angesprochenen des Qur’an waren; aber inwieweit man sich bei der Bestimmung der Hauptabsicht des Qur’an darauf verlassen darf, ist zwischen den islamischen Gelehrten umstritten. Viele sunnitische Gelehrte bezeichnen die Überlieferungen der Prophetengefährten über die Offenbarungsanlässe als „Hadithe marfu“, und das bedeutet, dass man diese Überlieferungen sogar neben die Überlieferungen vom Propheten des Islam stellt, denn weil die tradierten Überlieferungen vom Propheten ein verlässlicher Beweis sind, wird den Überlieferungen seiner Gefährten zum Offenbarungsanlass die gleiche Gültigkeit zugeschrieben.
Aber in Wirklichkeit kann man die Äußerungen der Gefährten und anfänglich vom Qur’an Angesprochenen niemals absolut und bedingungslos akzeptieren. Zweifellos können diese Überlieferungen Hilfe leisten für ein besseres Verständnis und eine genaue Interpretation der Verse. Aber man muss berücksichtigen, dass ihr Qur’anverständnis gänzlich menschlicher Natur ist, das wie das Verständnis eines jeden Menschen von verschiedenen Ursachen beeinflusst werden und von gewissen Abweichungen begleitet sein kann; deshalb kann man ihr Verständnis niemals als eine Art heiliges Verständnis und frei von jeder Art von Fehler ansehen. Aber weil sie dem Propheten näher standen, den Qur’an direkt und aus der Nähe gehört haben und in anderen Zeit- und Lebensumständen lebten, bietet ihr Verständnis im Vergleich zu den später vom Qur’an Angesprochenen mehr Möglichkeiten, die wahre Bedeutung der Verse zu entdecken. Folglich kann man das nicht ignorieren und gleichzeitig kann man das auch nicht absolut annehmen und für heilig erklären, insbesondere da es viele unterschiedliche Gründe gibt für ein falsches Verständnis und Fehlinterpretation von Gefährten und anfänglich vom Qur’an Angesprochenen, so dass ein und dieselbe Person zuweilen unterschiedliche oder sogar widersprüchliche Interpretationen von einem Vers gegeben hat.
Abgesehen davon waren manche von denen, die Interpretationen angeboten haben, bei der Offenbarung der Verse entweder gar nicht dabei oder haben nur einen kurzen Lebensabschnitt des Propheten miterlebt. Andere wiederum, die zu den Unterstützern des Propheten in Medina gehörten, haben sich zum Offenbarungsanlass der mekkanischen Verse geäußert.
Für weitere Informationen s. Tafsir al-Manar (Rasid Reza), Vorwort Bd. 1, und Bd. 2, S. 11; al-Mizan (Allamah S. M. Hossein Tabatabai), Bd. 3, S. 87; Der Qur’an im Islam (Allameh Tabatabai) S. 118.
[1] Der Islam hat hinsichtlich der Bekleidung von Frau und Mann, grundsätzlich hinsichtlich ihrer Erscheinung in der Gesellschaft und der Form ihres gesellschaftlichen Verhaltens betont, dass die Tradition, in der man lebt, berücksichtigt werden soll, und dass jeder Widerstand gegen die vorhandene Sitte der Gesellschaft in diesem Zusammenhang verboten ist. Selbst wenn jemand einen hohen religiösen Rang hat, muss unter Berücksichtigung seines Rangs und der ihm entgegengebrachten Ehrerbietung seine Legitimation ernsthaft überprüft werden, wenn er Strukturen umstrukturiert, dagegen verstößt und ein unnatürliches, gegen die in dieser Gesellschaft vorhandenen Traditionen verstoßendes Verhalten zeigt.
S. z. B. Al-madhal al-fuqaha al-am, S. 53; Gawahir al-Islam, Bd. 23, S. 263, al-uÈÚl al-amma lil-fiqh al-muqarin, S. 422.
[1] Henri Corbin, Die Geschichte der islamischen Philosophie; Vorwort.
[1] S. Vortrag des Autors bei der Konferenz europäischer Imame und SeelsorgerInnen in Wien, April 2006, in Al-Fadschr Nr. 124, S. 52ff.