Ḥusain – Manifestation edler Charaktereigenschaften (Makārim al-Akhlāq): Eine hermeneutische Analyse des Hadiths „Ḥusain ist von mir, und ich bin von Ḥusain.“

Vor gelegt von: Dr. Narges Saeedi – Vorstandsmitglied des Instituts für rational-islamische Rechtfindung und Friedenstheologie (IFRIR)
1. Einleitung
„Ḥusain ist von mir, und ich bin von Ḥusain.“ – Diese überlieferte Aussage des Propheten Muḥammad bildet einen tiefgründigen und zugleich komplexen Ausgangspunkt für eine theologisch reflektierte Annäherung an das Verhältnis zwischen dem Propheten und seinem Enkel Ḥusain b. ʿAlī. Während der erste Teil der Aussage – „Ḥusain ist von mir“ – sich relativ unmittelbar erschließt und auf eine biologische, emotionale sowie spirituelle Verbindung verweist, wirft der zweite Teil – „ich bin von Ḥusain“ – grundlegende Fragen auf: In welchem Sinn kann der Prophet, der die Botschaft des Islams offenbart hat, von seinem Enkel „sein“, der zeitlich nach ihm lebt und der als Person und Märtyrer in die Geschichte eingeht?
Diese scheinbare Umkehrung der chronologischen und autoritativen Ordnung ist nicht nur bemerkenswert, sondern eröffnet auch eine vertiefte theologisch-hermeneutische Reflexion. Die Aussage weist auf eine wechselseitige Beziehung zwischen dem Propheten und Ḥusain hin, die über familiäre oder historische Dimensionen hinausgeht und eine existenzielle Tiefendimension des islamischen Glaubens berührt. Ḥusain wird hierbei nicht nur als Nachkomme des Propheten betrachtet, sondern als eine konkrete Verkörperung und Fortführung des moralisch-spirituellen Paradigmas, das die prophetische Botschaft in ihrem Zweck und Ziel lebendig werden lässt – insbesondere in der beispielhaften Standhaftigkeit gegenüber Ungerechtigkeit und Tyrannei.
Vor diesem Hintergrund widmet sich die vorliegende Arbeit der zentralen Frage, inwiefern das Verhältnis zwischen dem Propheten Muḥammad und Ḥusain b. ʿAlī als Ausdruck eines spirituell-moralischen Vorbildmodells verstanden werden kann, das weit über genealogische oder geschichtliche Bindungen hinausweist. Dabei stehen insbesondere folgende Aspekte im Fokus: das Vorbildverständnis im Islam, das spezifische Charakterprofil des Propheten als Erzieher, die ethisch-existenzielle Dimension des Martyriums Ḥusains in Karbalāʾ sowie die Frage nach der Kontinuität prophetischer Werte im Handeln und im Opfer seines Enkels.
Ziel ist es, durch eine hermeneutisch informierte Analyse die religiöse und ethische Tiefenstruktur der prophetischen Aussage zu erschließen und zu zeigen, wie sich im Andenken an Ḥusain ein fundamentales Moment islamischer Spiritualität, Moralität und Menschlichkeit verdichtet.
2. Der Mensch als erziehungsbedürftiges Wesen
Im islamischen Denken wird tarbiyya (Erziehung) nicht nur als pädagogischer, sondern als ontologischer Prozess verstanden: ein Weg zur Entfaltung jener Anlagen, die dem Menschen von Gott verliehen wurden. Diese Potenziale bilden die angeborene Grundlage für das menschliche Streben nach spiritueller Vervollkommnung und Gottesnähe (qurb ilā Llāh). Ohne bewusste geistige Führung bleiben diese Anlagen jedoch oft brachliegen.
Im Nahj al-Balāgha, einer Sammlung von Predigten und Aussprüchen des Imams ʿAlī, heißt es dazu:
„Zu Beginn deiner Erschaffung warst du unwissend; mit dem Reifen deiner Natur jedoch erwuchs dir Erkenntnis. Wie zahlreich sind die Dinge, deren Weisheit dir verborgen bleibt – dein Geist irrt in ihnen umher, dein Blick vermag sie nicht zu fassen. Doch mit dem Fortschreiten deiner Stufen wirst du ihre Wahrheit erkennen.“1
Diese Aussage betont die dynamische Natur menschlicher Erkenntnis, die sich im Laufe der geistigen Entwicklung entfaltet. Aus Sicht der islamischen Anthropologie ist der Mensch mit einer natürlichen Disposition zur spirituellen und ethischen Reifung ausgestattet. Seine Vernunft (ʿaql) bildet dabei ein formbares Instrument, das Orientierung und Anleitung bedarf.
Doch theoretisches Wissen allein genügt nicht, um zur menschlichen Vollkommenheit zu gelangen. Es braucht lebendige Vorbilder, die abstrakte moralische Prinzipien verkörpern und sie in den Alltag übertragen. Die Propheten erfüllen in diesem Zusammenhang eine doppelte Rolle: Sie sind nicht nur Übermittler göttlicher Botschaft, sondern auch sichtbare Verkörperungen göttlicher Ethik. Der Koran bringt dies auf den Punkt:
„Ihr habt an Gottes Gesandten ein schönes Vorbild.“2 (Koran 33:21)
Im Koran lassen sich zwei zentrale Dimensionen der Erziehung unterscheiden: eine rational-wissenschaftliche, die sich auf Erkenntnis durch Vernunft (ʿaql) und die Beobachtung der Schöpfung stützt, und eine praktische, die durch exemplarische menschliche Vorbilder vermittelt wird. Der Mensch steht somit unter der Leitung seiner Vernunft – die in der Gelehrtentheorie als „innerer Prophet“ (an-nabī al-bāṭin) beschrieben wird – sowie unter der Führung der göttlichen Offenbarung, welche diese Vernunft ergänzt und vervollkommnet.
Die rationale Dimension wird im Koran ausdrücklich hervorgehoben:
„In der Erschaffung der Himmel und der Erde, in der Folge von Nacht und Tag […] sind Zeichen für Leute, die verstehen.“ (Koran 3:190)
Durch achtsame Beobachtung der Natur und reflektierte Anwendung des Verstandes kann der Mensch zur Erkenntnis der göttlichen Ordnung gelangen.
Gleichzeitig betont der Koran die Notwendigkeit praktischer Vorbilder. In Bezug auf Abraham heißt es:
„Ihr habt ja ein schönes Vorbild an Abraham und denen, die mit ihm waren.“ (Koran 60:4)
Die hier erwähnte ʾuswa ḥasana (schönes Vorbild) verweist auf eine Persönlichkeit, die ihr inneres Potenzial in allen Dimensionen entfaltet hat und dadurch zu einem authentischen Modell für andere geworden ist. Erst auf dieser Grundlage wird Nachahmung sinnvoll und wirksam.
Damit ein solches Vorbild jedoch universell nachahmbar bleibt, muss es innerhalb menschlicher Erfahrungs- und Erkenntnishorizonte wirken. Der Prophet als erziehende Instanz steht daher – trotz seiner spirituellen Exzellenz – unter Bedingungen, die denjenigen anderer Menschen grundsätzlich ähneln. Dazu gehören seine natürliche Veranlagung, seine körperlichen Bedürfnisse und die Erfahrungsbasiertheit seiner Erkenntnis. Der Koran hebt diese Gemeinsamkeit wiederholt hervor:
„Nichts hinderte die Menschen, als die Rechtleitung zu ihnen kam, zu glauben, außer dass sie sagten: ‚Hat Gott einen Menschen als Gesandten geschickt?’“ (Koran 17:94)
„Und wenn Wir ihn (Mohammad) als Engel geschaffen hätten, hätten Wir ihn (den Engel) als Mann erscheinen lassen und ihnen verwirrt, was sie jetzt schon verwirrt.“ (Koran 6:9)
In der praktischen Dimension islamischer Erziehung ist das anschauliche Vorbild eines ethisch vollkommenen Menschen unersetzlich. Nur durch solch greifbare Verkörperung göttlicher Tugenden kann moralisches Lernen gelingen. Entscheidend ist dabei, dass dieses Vorbild menschliche Begrenzungen teilt – und nicht durch übernatürliche Fähigkeiten distanziert wirkt –, um realistisch und nachvollziehbar zu bleiben.
Vor diesem Hintergrund erhält die Rolle Ḥusains eine tiefere Bedeutung, die über seine genealogische Herkunft hinausreicht: Er verkörpert göttliche Moral auf existenzielle Weise. Seine Standhaftigkeit, seine spirituelle Tiefe und seine ethische Integrität – insbesondere angesichts der Tragödie von Karbalāʾ – machen ihn zu einem paradigmatischen Vorbild islamischer Erziehungsethik.
3. Prophetie als moralisch-metaphysisches Erziehungsprojekt
Der zentrale Zweck der Prophetie wird in der klassisch-islamischen Lehre als moralische und metaphysische Vervollkommnung des Menschen verstanden. So formuliert der Prophet Muḥammad diesen Auftrag in einem überlieferten Ḥadīth mit prägnanter Klarheit:
„Ich wurde von Gott entsandt, damit ich die moralischen Werte vervollkommne.“3
Dieser Ausspruch verdeutlicht, dass Prophetie nicht allein die Vermittlung ethischer Normen
bezweckt, sondern deren Existenzialisierung im Menschen – im Sinne einer transzendierenden Transformation seiner inneren Wesensstruktur.
Die islamische Anthropologie sieht im Menschen eine ontologische Anlage zur Ethik, die sich in der koranischen Vorstellung der Fiṭra (Urnatur) widerspiegelt. Gemäß dem Koran wird jeder Mensch in einem Zustand natürlicher Gottesveranlagung erschaffen:
„So richte dein Gesicht auf die Religion als ein aus innersten Wesen Glaubender gemäß der Natur, in der Gott die Menschen erschaffen hat!“ (Koran 30:30).
Diese angeborene Veranlagung bildet die Grundlage für das menschliche Streben nach moralischer Erkenntnis und spiritueller Entwicklung. Demnach ist der Mensch in seinem ursprünglichen Zustand zur Erkenntnis des Guten fähig. Moralisches Verhalten auf dieser natürlichen Basis ist jedoch nicht das Endziel der prophetischen Sendung. Vielmehr geht es um die Vervollkommnung der fiṭrāṭischen Potenziale durch göttliche Führung – um die Realisierung eines höheren, göttlich geprägten Menschseins.
In der islamischen Philosophie, besonders bei Mullā Ṣadrā († 1640), wird dieser Prozess als Weg zur Verwirklichung des wahren Seins verstanden. Das höchste Ziel menschlicher Existenz ist die Manifestation des vollkommenen Menschen (insān kāmil), der zum Spiegel der göttlichen Eigenschaften (asmāʾ Allāh) wird. Mullā Ṣadrā beschreibt diesen Zustand als jene Stufe, in der der Mensch als chalīfat Allāh – als Stellvertreter Gottes – erscheint und somit die metaphysische Absicht der Schöpfung erfüllt.4
Innerhalb dieser theologischen Konzeption ist Prophetie nicht als rein normativer oder juristischer Akt zu verstehen, sondern als existenzielle Erziehung zu einem gottähnlichen Sein. Der Prophet verkörpert das Ideal dieser Vervollkommnung – nicht nur als Übermittler göttlicher Gebote, sondern als gelebtes Ethos. Sein Leben fungiert als paradigmatisches Beispiel, an dem sich die Vervollkommnung der menschlichen Seele konkret und erfahrbar vollzieht.
Vor diesem Hintergrund eröffnet sich eine tiefere Deutung des Ḥadīths: „Ḥusain ist von mir, und ich bin von Ḥusain.“ In der Figur Ḥusains verdichtet sich die moralisch-metaphysische Dimension der Prophetie exemplarisch. Die Extremsituation von Karbalāʾ zeigt, wie das ethische Ideal des Propheten in konkrete Handlung umgesetzt wird: als radikale Treue zur Wahrheit, als Verkörperung göttlicher Tugend auch unter lebensbedrohlichen Umständen.
Ḥusain verwirklicht das prophetische Ziel der Vervollkommnung insbesondere dadurch, dass er sich trotz massiver politischer und physischer Bedrohung weigert, einem ungerechten Herrscher die Gefolgschaft zu leisten.
Seine bewusste Entscheidung für das Martyrium wird zur ultimativen Demonstration moralischer Integrität, die nicht auf äußeren Erfolg, sondern auf innere Wahrhaftigkeit und spirituelle Treue ausgerichtet ist.
In der Weigerung, Kompromisse mit der Tyrannei einzugehen, und in der Bereitschaft, für die Wahrheit zu sterben, zeigt sich die vollendete Manifestation jener göttlichen Eigenschaften, die der Prophet zu verkörpern und zu lehren suchte: Gerechtigkeit (ʿadl), Standhaftigkeit (ṣabr), Aufrichtigkeit (ṣidq) und Barmherzigkeit (raḥma).
Ḥusains Haltung in Karbalāʾ wirkt so wie ein lebendiger Spiegel der prophetischen Botschaft – ein ethisches Echo des Propheten selbst, das in der Geschichte widerhallt.
So erscheint Ḥusain nicht nur als ethischer Nachfolger des Propheten, sondern als dessen existenzielle Verwirklichung – als lebendige Manifestation des prophetischen Erziehungsziels. Prophetie wird hier zu einem Erziehungsprojekt, das nicht in theoretischer Lehre verbleibt, sondern in der konkreten Gestalt dessen Gestalt annimmt, der durch sein Handeln den Weg zur moralisch-transzendenten Vervollkommnung weist.
4. Fazit
Der Ḥadīth „Ḥusain ist von mir, und ich bin von Ḥusain“ eröffnet einen vielschichtigen theologischen und ethischen Deutungsraum. Über die genealogische Verbindung hinaus verweist diese Aussage auf eine tiefgreifende spirituelle und moralische Kontinuität zwischen dem Propheten Muḥammad und seinem Enkel Ḥusain. Während der Prophet als Ursprung der göttlichen Offenbarung gilt, erscheint Ḥusain als lebendige Verkörperung der daraus hervorgehenden ethischen Prinzipien.
Die hermeneutische Analyse zeigt, dass Ḥusain im islamischen Erziehungsprojekt eine Schlüsselrolle als praktisches Vorbild einnimmt. Er verwirklicht die prophetische Sendung in ihrer ethisch-spirituellen Dimension, indem er die göttlichen Tugenden in einer existenziellen Prüfungssituation offenbart. Seine Haltung und sein Opfer in Karbalāʾ stellen ein paradigmatisches Modell der Nachfolge dar, das über bloße Lehre hinausweist und die ethische Vervollkommnung des Menschen in den Mittelpunkt rückt.
Diese Erkenntnis vertieft das Verständnis von Prophetie als einem dynamischen, moralisch-metaphysischen Erziehungsprojekt, das sich in lebendigen Vorbildern konkretisiert. Die Aussage „Ich bin von Ḥusain“ betont die wechselseitige Beziehung zwischen Prophet und Nachfolger – eine Beziehung, die die biologische Abstammung transzendiert und in Ḥusains Handeln die fortdauernde Präsenz der prophetischen Ethik bezeugt.
5. Literaturverzeichnis
Adīb, ʿAlī Muḥammad-Ḥusain: Rāh va rawš-e tarbiyat az didgāh-e Imām ʿAlī (a), übers. von Dr. Seyyed-Moḥammad Rādmanesh, Teheran: Moʾassase-ye Anjām-e Ketāb, 1362 Š/1983.
al-Baihaqī, Aḥmad b. Ḥusain: as-Sunan al-kubrā, 3. Aufl., Bd. 10, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya (DKI), 2003.
Ghaemmaghami, Seyed Abbas: Vernunft und Glauben, Hamburg: Islamisches Zentrum Hamburg (IZH), 2005.
Ibn Abī Shayba: al-Muṣannaf, Bd. 6, Beirut: Dār al-Fikr, 1990.
al-Majlisī, Muḥammad Bāqir: Biḥār al-Anwār, Bd. 45, Beirut: Dār Iḥyāʾ al-Turāth al-ʿArabī, 1404 n. H.
Mullā Ṣadrā: Asrār al-Āyāt, o. O. [Ort unbekannt], o. J. [Jahr unbekannt].
Zirker, Heinz: Der Koran. Arabisch–Deutsch. Vollständige Ausgabe, Stuttgart: Reclam, 2007.
[1] Adīb, ʿAlī Muḥammad-Ḥusain: Rāh va rawš-e tarbiyat az didgāh-e Imām ʿAlī (a), übers. von Dr. Seyyed-Moḥammad Rādmanesh, Teheran: Moʾassase-ye Anjām-e Ketāb, 1362 Š/1983.
[2] Alle Koranübersetzungen stammen aus: Zirker, Heinz: Der Koran. Arabisch–Deutsch. Vollständige Ausgabe, Stuttgart: Reclam, 2007.
[3] Ghaemmaghami, Seyed Abbas: Vernunft und Glauben, Hamburg: Islamisches Zentrum Hamburg (IZH), 2005.In Originalarabisch: al-Baihaqī, Aḥmad b. Ḥusain: as-Sunan al-kubrā, 3. Aufl., Bd. 10, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya (DKI), 1424 h/2003.
[4] Vgl. Mullā Ṣadrā: Asrār al-Āyāt, o. O. [Ort unbekannt], o. J. [Jahr unbekannt], vgl. S. 237–238.
- Adīb, ʿAlī Muḥammad-Ḥusain: Rāh va rawš-e tarbiyat az didgāh-e Imām ʿAlī (a), übers. von Dr. Seyyed-Moḥammad Rādmanesh, Teheran: Moʾassase-ye Anjām-e Ketāb, 1362 Š/1983. ↩︎
- Alle Koranübersetzungen stammen aus: Zirker, Heinz: Der Koran. Arabisch–Deutsch. Vollständige Ausgabe, Stuttgart: Reclam, 2007. ↩︎
- Ghaemmaghami, Seyed Abbas: Vernunft und Glauben, Hamburg: Islamisches Zentrum Hamburg (IZH), 2005.In Originalarabisch: al-Baihaqī, Aḥmad b. Ḥusain: as-Sunan al-kubrā, 3. Aufl., Bd. 10, Beirut: Dār al-Kutub al-ʿIlmiyya (DKI), 1424 h/2003. ↩︎
- Vgl. Mullā Ṣadrā: Asrār al-Āyāt, o. O. [Ort unbekannt], o. J. [Jahr unbekannt], vgl. S. 237–238. ↩︎