Europäischer Islam (Teil 2)
In den vorausgegangenen Abschnitten wurde die historische Vermischung von Kultur und Tradition der muslimischen Gesellschaften mit dem Islam und den islamischen Lehren thematisiert und die Notwendigkeit der Differenzierung beider Aspekte betont. Nachfolgend sollen einige Beispiele diese Vermischung deutlich machen, die dafür verantwortlich ist, dass manche Sitten und negative Traditionen auf den Prozess der Qur’aninterpretationen Einfluss genommen haben und die wahre Bedeutung der entsprechenden Verse dadurch verloren zu gehen droht.
Ein solches Beispiel ist ein Qur’anvers, der den Unterschied zwischen Mann und Frau thematisiert. Es sei jedoch vorausgeschickt, dass der Qur’an eine geschlechtsorientierte Sichtweise vom Menschen vehement ablehnt und Geschlecht, Rasse, Sprache, Denken und Glauben prinzipiell keinerlei Einfluss auf die menschliche Identität haben. Jeder Mensch ist ungeachtet der Tatsache, ob er Mann oder Frau, weiß oder schwarz, Muslim oder Nichtmuslim ist, primär ein Mensch, und aufgrund dieser gemeinsamen und gleichen Identität hat er Anspruch auf die menschlichen Rechte. Eines der wichtigsten und klarsten Identitätsmerkmale der vorislamischen Gesellschaft der Torheit war der Männlichkeitswahn, d. h. die Männlichkeit war ein wesentliches Element in dieser Gesellschaft. Aber Männlichkeit sollte nicht mit Patriarchalismus verwechselt werden, denn in einer patriarchalischen Gesellschaft haben auch die Frauen bestimmte Rechte. In einer solchen Gesellschaft stehen die Rechte der Frauen im Vergleich zu den Männern an zweiter Stelle, und in Wirklichkeit werden ihre Rechte als den Rechten der Männer untergeordnet definiert. Folglich hat in einer Kultur der Männlichkeit die Frau grundsätzlich keine andere Persönlichkeit als die, dem Mann dienlich zu sein. Deshalb hat sie keine Rechte, sondern nur Verantwortung und Pflichten dem Mann gegenüber.
Obwohl es die wesentliche Aufgabe des Islam ist, die Kultur der Torheit und insbesondere die Kultur der Männlichkeit zu bekämpfen, ist diese Kultur tief verwurzelt und hat in manchen Fällen Einfluss auf die Qur’aninterpretation genommen, wodurch die eigentliche Bedeutung der Verse manchmal verloren gegangen ist. Ein klares Beispiel dafür ist Vers 34 der Sure an-Nisa’. In einem Teil des Verses wird gesagt, dass in einer Situation, in der die Rechte des Mannes von seiner Frau missachtet werden und unterschiedliche Strategien keine Wirkung zeigen, es dem Mann erlaubt sei, seine Frau zu „schlagen“.
Hier muss beachtet werden, dass dies die Meinung einiger Qur’anexegeten wiedergibt und in dieser Hinsicht kein Konsens herrscht. Interpretationen unterschiedlicher Qur’anexegeten sind nicht automatisch gültig und richtig, und die Methoden der Interpretation wurden in der Vergangenheit bereits hinlänglich ausgeführt. Es sei aber nochmals darauf verwiesen, dass derartige Interpretationen, selbst wenn sie von Prophetengefährten stammen, wichtig sind, aber dass diese nicht unbedingt die Gültigkeit einer Interpretation verstärken müssen, sondern dass die vorhandenen Maßstäbe die Gültigkeit dieser Interpretationen beweisen müssen, damit man über die Ursachen, die die Gültigkeit derartiger Interpretationen weiter verstärken, sprechen kann. In solchen Fällen gilt es, zunächst einige Beispiele aus dem Qur’an selbst herauszukristallisieren, damit man die wahre Bedeutung des Verses besser verstehen und die Richtigkeit und Gültigkeit eines Verses bestimmen kann. Wenn wir solche Beispiele im Qur’an nicht finden, sollen wir uns an die Sunna wenden und die Aussprüche und das Verhalten des Propheten (s.a.s.) zu Hilfe nehmen, um urteilen und die wahre Bedeutung des Verses und die Richtigkeit der Interpretation feststellen zu können. In Vers 34 der Sure an-NisÁ’ ist von einer Methode die Rede, die der Mann wählen kann, um ein falsches Verhalten seiner Frau zu korrigieren, und dafür wird der Begriff „daraba“ gebraucht.
Die deutschen, englischen und persischen Übersetzer und einige Qur’aninterpreten haben diesen Begriff als „schlagen“ bzw. im Englischen als „to beat“ übersetzt. Wenn dieser Begriff richtig ist, können wir sogleich zu dem Ergebnis gelangen, dass der Qur’an dem Mann unter bestimmten Bedingungen erlaubt, seine Frau zu schlagen. Aber ist es richtig, dem Qur’an eine solche Aussage zu unterstellen? Darf der Mensch tatsächlich einen anderen Menschen schlagen?!
Diese Frage gewinnt an Bedeutung, wenn wir bedenken, dass es in der arabischen Sprache, die die Sprache des Qur’ans ist, für den Begriff „daraba“ mehr als zehn unterschiedliche Bedeutungen gibt. So heißt es in Sure Àl-ImrÁn, Vers 112, z. B.: „Das Unglück wurde ihnen auferlegt.“ Hier wurde der Begriff „daraba“ verwendet, aber kein Qur’anübersetzer hat diesen Begriff als „schlagen“ übersetzt, sondern es wurde als „auferlegen“ ins Deutsche übertragen. Ein anderes Beispiel ist Sure al-Kahf, Vers 11: „Sodann versiegelten (darabna) Wir ihnen ihre Ohren“. Dieser Vers betrifft einige Urchristen, die sich aus Furcht vor den Ungläubigen in eine Höhle flüchteten, wo Gott sie schützte, und wie der Qur’an erwähnt, haben sie dort eine sehr lange Zeit im Schlaf verbracht, während der sie nicht hören konnten. Auch in diesem Vers wird also der Begriff „daraba“ benutzt, und damit ist keinesfalls „schlagen“ gemeint, sondern das Wort bedeutet „abwenden“, „vorenthalten“, „auferlegen“ oder „übergehen“.
Es gibt viele andere Beispiele im Qur’an, in denen der Begriff „daraba“ ebenfalls nicht „schlagen“ bedeutet.[1] In solchen Fällen, in denen ein Wort unterschiedliche Bedeutungen hat, darf man nicht automatisch eine Bedeutung auswählen, die man bevorzugt, sondern man muss verschiedene im Qur’an enthaltene Merkmale berücksichtigen. Dieser Vers verdeutlicht zweifellos, dass mit dem Begriff daraba nicht schlagen gemeint ist, sondern vielmehr abwenden oder etwas ähnliches.
Aus diesem Grund wenden wir uns nochmals den Versen 34 und 35 der Sure an-NisÁ’ zu, um dieses Merkmal genau zu untersuchen. In diesen Versen geht es um einen Konflikt zwischen Mann und Frau, der aus der Missachtung der Eherechte des Mannes durch die Frau resultiert. Im Qur’Án wird das Missachten der Eherechte mit dem Begriff „nuÊÚz“ bezeichnet, und dies bezieht sich nicht nur auf die Rechte des Mannes, sondern es wird vielmehr als ein familiäres Problem aufgefasst, d. h. zuweilen verletzt der Mann die ehelichen Rechte und Pflichten und zuweilen die Frau. In diesem Vers geht es um die Missachtung der ehelichen Pflichten seitens der Frau, und in der gleichen Sure, Vers 128, wird das entsprechende Verhalten des Mannes, d. h. seine Verletzung der Eherechte, erklärt. Ferner wird vorgeschlagen, wie man diesen Konflikt lösen kann und wie in die Familie wieder Frieden und Freundschaft zurückkehren können, und es werden einige Ratschläge dafür erläutert. Deshalb wird hier kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht. In diesem Vers wird gesagt: „Wenn ihr besorgt seid, dass eure Eherechte seitens eurer Frau ignoriert werden, soll ihr zunächst mit ihr reden und ihr raten; wenn das keinen Nutzen hat, dann sollt ihr euch im Ehebett von ihr abwenden, und wenn auch das nichts nützt, dann sollt ihr euch von ihr entfernen.“ Hier sehen wird, dass in den Übersetzungen anstelle des Begriffes „abwenden“ das Wort „schlagen“ benutzt wurde, und das stimmt nicht mit der vorgeschlagenen Reihenfolge überein.
Wir sehen, dass der Qur’an selbst dann, wenn das Raten keinen Nutzen hat, nicht erlaubt, das Ehebett zu verlassen,[2] sondern vielmehr Abstand zu nehmen. Wie wäre es denkbar, dass dann im nächsten Schritt das Schlagen akzeptiert oder sogar empfohlen werden sollte? Es ist nicht logisch, denn selbst wenn das Schlagen empfohlen worden wäre, müsste es am Ende vorgeschlagen werden. Deshalb hat „daraba“ hier die Bedeutung von „abwenden“, d. h. es wird empfohlen, dass der Mann, wenn die empfohlenen Ratschläge nichts nützen, sich von seiner Frau distanziert oder entfernt.
Ein wichtiger in diesem Zusammenhang zu beachtender Punkt ist, dass es um die grundlegende Sorge geht, dass Eherechte missachtet werden könnten, d. h. dieser Fall ist noch gar nicht eingetreten, sondern der Mann nimmt nur einige Anzeichen in den Äußerungen und im Handeln seiner Frau wahr, aufgrund derer er sich um den Fortbestand der Ehe sorgt. Die Institution der Familie ist aus islamischer Sicht von großer Bedeutung, und deshalb bilden eine starke emotionale Beziehung und die Liebe zwischen Mann und Frau das Fundament der Familie.[3]
Der Qur’an empfiehlt in diesen Fällen einige Maßnahmen, bevor die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau sich ins Gegenteil verkehren. In einem solchen Fall, in dem erste besorgniserregende Hinweise auftreten, werden bestimmte Maßnahmen empfohlen.[4] Gleichermaßen wird in dem bereits erwähnten Vers 128 der Sure an-NisÁ’ über die Sorgen der Frau gesprochen, wenn der Mann die Eherechte vernachlässigt. Um einen Konflikt zu verhindern wäre es nicht logisch, dem Mann zu gestatten, mit Gewalt zu agieren und seine Frau zu schlagen und damit das Problem zu verschlimmern. Deshalb wird in diesem Vers zur Lösung des Konfliktes eine rein emotionale Vorgehensweise vorgeschlagen, mit der wieder freundschaftliche Beziehungen zwischen den Eheleuten hergestellt werden können. Es wird betont, dass nicht übertrieben werden darf (Vers 33). Im weiteren Verlauf wird ein weiterer Fall angeführt. Wenn die Methode des Distanzierens und auch das Bemühen um eine emotionale Beziehung nichts nützen, und die Möglichkeit besteht, dass der Mann unvernünftig wird, sieht der Qur’an angesichts einer drohenden Trennung der Familie vor, dass der Mann seine agierende Rolle aufgibt, d. h. es werden von beiden Seiten akzeptierte Mitglieder beider Familien als Vermittler bestimmt. (al-NisÁ’, Vers 35).
Es gibt viele klare Hinweise und Merkmale im Qur’an, die diese Interpretation des Verses bestätigen. Auch die Sunna des Propheten (s.a.s.) und die großen religiösen Persönlichkeiten haben dies betont. So ist z. B. von ImÁm al-sadiq (a.s.) überliefert, dass er sagte:
„Ich bin erstaunt über einen Mann, der seine Frau schlägt, denn wenn jemand geschlagen werden sollte, hätte der Mann dies viel mehr verdient als die Frau. Schlagt niemals eure Frauen, ansonsten werdet ihr bestraft. Wenn sie ihre ehelichen Pflichten verletzten, zeigte eure Sorge auf andere Weise.“[5]
Nun stellt sich die Frage, warum trotz all dieser Hinweise und Argumente der Begriff „daraba“ in diesem Vers als „schlagen“ verstanden wird? Die Antwort darauf ist im Einfluss der Kultur und Tradition der Torheit beim Verstehen und in den Interpretationen mancher Qur’anverse zu sehen. Nochmals soll hervorgehoben werden, dass die wahre und reine Lehre des Qur’an des Islam nicht erlangt werden kann, wenn man die islamischen Begriffe und Qur’aninterpretationen nicht von den Sitten der verschiedenen islamischen Gesellschaften reinigt und nicht zwischen der Kultur der Muslime und der Kultur und Lehre des Qur’an differenziert wird. Es ist keineswegs so, dass diese beiden immer und überall konform sind, sondern manchmal stehen sie sich sogar gegenüber. Deshalb soll man darum bemüht sein, eine reine vorurteilsfreie Kenntnis vom Islam zu erlangen.
Fortsetzung folgt
Anmerkungen:
[1] S. Sure az-Zuhruf, Vers 43 und Sure al-Baqara, Vers 273.
[2] Alle Qur’aninterpreten und Sprachwissenschaftler erklären übereinstimmend, dass man im Ehebett Distanz nehmen, dieses aber nicht verlassen soll.
[3] Der Qur’an stellt klar fest, dass Liebe und Freundlichkeit die Grundlage der Ehe bilden. Den Menschen wird gesagt: Es ist ein Zeichen Gottes, dass er aus eurer Substanz und eurem Wesen Ehepartner für euch geschaffen hat, damit ihr Frieden beieinander finden könnt, und Er hat Liebe und Freundschaft zwischen sie gelegt. (Sure ar-Rum, Vers 21).
[4] Den qur’anischen Begriff „nuÊÚz“ haben die deutschen Übersetzer als „Widerspenstigkeit“, „Widersetzlichkeit“ oder „Auflehnen“ übersetzt. Die wahre Bedeutung ist verständlich, wenn man weiß, dass der Islam für die Ehe bestimmte Rechte vorgesehen hat, die von beiden Ehepartnern berücksichtigt werden müssen. Bei einer Missachtung dieser Rechte seitens beider Ehepartner spricht der Qur’an von „nuÊÚz“.
[5] SafÍnatu-l-Bihar, Bd. 2, S. 8.