Tag der Berufung des Propheten
Anlässlich des großartigen Tages der Berufung des Propheten des Islam möchte ich Ihnen und allen Muslimen meine Glückwünsche aussprechen. Aus diesem Anlass sehe ich es als passend an, ein wenig über das moralische Verhalten des Propheten des Islam zu sprechen. Über die Gerechtigkeit, als der wichtigsten islamischen Lehre und die Gerechtigkeit des Propheten des Islam wurde sehr viel gesprochen und geschrieben, und zuweilen wurde in übertriebener Manier und im Gegensatz zur Wirklichkeit die Gerechtigkeit sogar als die einzige Lehre des Islam und der Propheten bezeichnet. Sicherlich ist die Gerechtigkeit im Sinne der Verpflichtung zu gleichen Rechten für alle Menschen in der Gesellschaft eine der wichtigsten und essentiellen Ideen, die der Islam nachdrücklich betont, was sich im Verhalten und Leben des Propheten manifestiert.
Aber im rechtlichen und ethischen System des Islam, dessen Lehrer der Prophet ist, gibt es ein Wertprinzip, das noch ein wenig höher anzusiedeln ist als die Gerechtigkeit, und zwar das Prinzip des Gleichgewichts und der Harmonie. Wenn wir von der Natur des Gleichgewichts und der Harmonie in einem Phänomen sprechen, stellen wir sehr schnell fest, dass dieses Phänomen ein komplexes Wesen und vielfältige Dimensionen aufweist. Die Persönlichkeit des Menschen besteht aus einer Vielzahl von Eigenschaften und Vollkommenheiten. Der Mensch als eindimensionale Persönlichkeit ist unvorstellbar. Vielmehr ist ein vollkommener idealer Mensch derjenige, der eine Vielfalt an guten und vollkommenen Eigenschaften in sich birgt; und die alleinige Ursache dafür, dass das Individuum eine Vielfalt an menschlichen Vollkommenheiten und Schönheiten in sich vereint und verinnerlicht hat, ist das Prinzip des Gleichgewichts und der Harmonie.
Jede vortreffliche und gute Eigenschaft begrenzt und behindert die anderen vollkommenen Eigenschaften im Menschen und schmälert letztlich deren Schönheit, wenn sie die Verwirklichung anderer ausgezeichneter Eigenschaften verhindert. Deshalb wird die Schönheit einer jeden guten Tat und Eigenschaft genau in dem Moment verwirklicht, in dem sie mit der Gesamtheit harmoniert. Dies ist vergleichbar mit einem schönen Gemälde, dessen Schönheit letztlich auf der stilvollen Benutzung der Farbenvielfalt basiert. Dies entspricht genau dem Prinzip des Gleichgewichts und der Harmonie, das der Islam in einem rechtlichen und ethischen Prozess besonders beachtet. Aus islamischer Sicht steht die Schönheit
und Vollkommenheit einer jeden Sache im Zusammenhang mit dem Gleichgewicht und der Harmonie, und dies trifft z. B. auch auf das Individuum und die Gesellschaft zu. Gleichgewicht impliziert ein ausgeglichenes Maß an allen angenehmen und guten Elementen.
Gerechtigkeit als Wert und gesellschaftliches Phänomen ist eine der guten Eigenschaften, zu der man verpflichtet ist, und die bei der Bildung der Persönlichkeit des idealen Menschen wirksam ist. Aber das ist nicht die einzige Eigenschaft oder der alleinige Vorzug des Menschen. Wichtiger als die Gerechtigkeit ist das Gleichgewicht, und weil diese beiden Begriffe in der arabischen Sprache die gleiche Wurzel haben und oft gemeinsam benutzt werden, wurden sie oft miteinander verwechselt.
Viele Betonungen auf das Gleichgewicht und die Berücksichtigung des Prinzips der Gerechtigkeit in der islamischen Lehre gründen in einer Interpretation der Gerechtigkeit als einem rechtlichen, gesellschaftlichen Begriff. Wenn mit dem Begriff der Gerechtigkeit gemeint ist, dass in einem System als rechtliche und offizielle Verpflichtung die Berücksichtigung der Rechte der Menschen in der Gesellschaft betont wird, dann gewinnt die Schönheit und Vollkommenheit der Gerechtigkeit im Vergleich zu den anderen Schönheiten und Vollkommenheiten der menschlichen Persönlichkeit an Bedeutung. Aus diesem Grund besteht die besondere Kunst des idealen vollkommenen Menschen darin, dass er unter Berücksichtung der Verpflichtung zur Gerechtigkeit dies zur Grundlage seines Umgangs mit den anderen Menschen macht und folglich einen Schritt weiter geht und über die rechtlichen offiziellen Notwendigkeiten hinaussieht. Der Prophet des Islam hat als Absicht und wesentliche Philosophie seiner Mission die Verwirklichung der höchsten moralischen Werte und Eigenschaften und die Beseitigung der Mängel genannt:
„Wahrlich, ich wurde entsandt, um die moralischen Schönheiten und Weisheiten zu vervollkommnen.“
Wenn wir bedenken, in welchem Maße sich die menschliche Gesellschaft vor 1500 Jahren Ungerechtigkeit und moralischer Dekadenz gegenübersah, können wir die besondere Bedeutung dieses Ausspruches besser verstehen. Der Prophet des Islam hat im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen die Berücksichtigung der Gerechtigkeit sehr hervorgehoben. Und wie bereits erwähnt bedeutet Gerechtigkeit einfach definiert, dass allen Menschen die gleichen Rechte gebühren. Natürlich stellt jede Beeinträchtigung der Rechte der anderen ein ungerechtes Verhalten dar, und der Prophet hat dieses Verhalten verneint. Wird das Recht eines Menschen beeinträchtigt, hat dieser das Recht, dass gleiche zu tun. Das entspricht dem Verständnis von Gerechtigkeit.
Doch das war nicht die alleinige Botschaft des Propheten, sondern ist vielmehr ein allgemeines moralisches Prinzip; was er betont und als wichtigste Achse seiner Rechtleitung und seines Prophetentums geformt hat, war die Bekanntmachung und Verbreitung der Freundlichkeit. Im Qur’Án, dessen Botschafter der Prophet des Islam ist, wird sehr deutlich gesagt, dass die Menschen das Böse mit dem Guten abwehren sollen (vgl. Qur’Án, Sure ar-Raþd, Vers 22). Äußerlich mag dieses Gebot als widersprüchlich zum Prinzip der Gerechtigkeit erscheinen, das das Recht der Vergeltung für denjenigen, der ungerecht behandelt wurde, zulässt. Aber im rechtlichen und moralischen System des Islam ist dieser Widerspruch vollkommen unbegründet und beigelegt.
Die Betonung des Propheten des Islam auf Gerechtigkeit findet auf zwei Ebenen, d. h. der gesellschaftlichen und der individuellen Ebene statt. Auf der individuellen Ebene wird der einzelne Mensch angesprochen, und er wird aufgefordert, die Rechte der anderen zu berücksichtigen und die Grenzen nicht zu überschreiten. Grundsätzlich neigt und strebt jeder Mensch nach mehr, aber wenn dieses Streben nicht kontrolliert wird, resultieren daraus gesellschaftliches Chaos und Unruhe. Wenn ein Individuum für sich mehr Rechte beansprucht als er anderen zuspricht, wird er sich natürlich darum bemühen, mehr Rechte zu erlangen. Der Islam kontrolliert dieses Gefühl im Menschen von vornherein und stärkt die Absicht des Individuums, auf seine Rechte zugunsten der Rechte der anderen zu verzichten. Dies geht soweit, dass der Prophet des Islam sagte, dass diejenigen, die das Recht der anderen über die eigenen Rechte erheben, belohnt werden.
„Die Barmherzigkeit Gottes wird derjenige erlangen, der seine Grenzen und Rechte kennt und diese nicht überschreitet.“
Aber andererseits wird im Hinblick auf das Gleichgewicht im Menschen ein anderes Prinzip erwähnt, und zwar dass man darum bemüht sein muss, die Rechte der anderen nicht zu beeinträchtigen oder zu missachten; und sollte einem Unrecht widerfahren, sollte man auf eine entsprechende Vergeltung verzichten, und ganz im Gegenteil dazu Freundlichkeit walten lassen und die schlechte Tat von anderen mit Güte und einer guten Tat beantworten. Das Ergebnis dieser großen und wichtigen moralischen Lehre ist, dass alle Menschen zu Freundlichkeit aufgerufen werden und alle Menschen lernen, dass sie auf der Basis der Freundlichkeit miteinander umgehen und förmliche rechtliche Vorschriften und Prinzipien zur Grundlage ihrer Beziehungen machen. Denn solange man selbst anderen gegenüber keine freundliche Einstellung hegt, wird man nicht in der Lage sein, seine falschen Taten und Sünden zu unterlassen, sondern weiterhin versuchen, von seinem Recht gegenüber den anderen Gebrauch zu machen. Aus diesem Grund manifestiert sich Freundlichkeit nicht nur im Verzicht, sondern in der Motivation zu guten Taten als Antwort auf schlechte Taten.
Ein anderes Ergebnis dieser großen Lehre des Propheten des Islam besteht darin, dass die Menschen davon lernen können, dass sie aufgrund ihrer eigenen Freundlichkeit gegenüber den anderen nicht die Erwartung und den Anspruch haben können, dass ihnen ihr Verhalten mit gleichem beantwortet wird. Diese Art der Freundlichkeit ist eine Freundlichkeit ohne Erwartungshaltung. Wenn ich für die Freundlichkeit, die ich anderen erweise, niemals eine Gegenleistung erwarte, wird mein Verhalten immer auf Freundlichkeit basieren und ein kontinuierliches und dauerhaftes Verhalten sein, und unfreundliche Antworten und unpassendes Verhalten von anderen wird mich von diesem Verhalten nicht abbringen.
Die Gerechtigkeit im Bereich der gesellschaftlichen Beziehungen, die der Prophet des Islam sehr betonte, steht jedoch nicht im Widerspruch zu dieser allgemeinen Freundlichkeit, denn das Missachten der Gerechtigkeit ist eine gegen die Gesellschaft gerichtete Tat. Wenn eine kriminelle Tat eines Menschen seitens der Gesellschaft unbeantwortet bleibt und der Gerechtigkeit und dem Gesetz nicht Genüge getan wird, wird dies nur Gleichgültigkeit gegenüber der Existenz der Gesellschaft zum Ausdruck bringen. Die fehlende Umsetzung von Gerechtigkeit würde diesen Straftäter in seinem Tun stärken und ihn zur Fortsetzung seines Weges ermutigen. Selbst jene Theorien, die die Bedeutung des Individuums besonders hervorheben, werden ihm nicht das Recht zugestehen, gegen gesellschaftliches Recht zu verstoßen.
In einem umfassenderen Kontext gesehen kann die Verwirklichung der Gerechtigkeit angesichts eines Verstoßes eines Menschen gegen die Rechte der Gesellschaft für dieses Individuum sehr nützlich und konstruktiv sein, weil er dadurch lernt, dass er auf seine individuellen Rechte verzichten und die gesellschaftlichen Rechte nutzen und die kollektiven Rechte seinen individuellen Rechten vorziehen kann. Dies versteht der Islam unter dem Prinzip der Gerechtigkeit, d. h. die Betonung auf die Gerechtigkeit, die es in den heiligen islamischen Schriften gibt, bezieht sich grundsätzlich auf die gesellschaftlichen Rechte. Abgesehen davon wird den Menschen empfohlen, gegenüber den anderen auf ihr Recht zu verzichten und davon abzusehen, genau wie die anderen zu reagieren.
Das Leben des Propheten Muhammad ist voll von solchen Lehren der Freundlichkeit gegenüber den anderen, des Verzichts auf sein individuelles Recht und des guten Verhaltens gegenüber denjenigen, die sich ihm gegenüber schlecht benommen haben. Einige derartige Beispiele werden wir in den kommenden Freitagsansprachen erwähnen. Eine der wichtigsten Lehren des Propheten, die wir heute in Form eines Gedichtes des großen persischen Dichters Saadi Schirazi über dem Eingang der UNO lesen können, steht, stellt ein Zeichen des Stolzes für die Muslime dar. Es lautet:
Alle Menschen unabhängig von Religion, Nationalität, Sprache und Farbe sind wie die Glieder eines Körpers. Wenn ein Körperteil Schmerzen leidet, werden auch andere Körperteile Schmerzen bekommen, und gleichermaßen wenn ein Teil der Menschheit Schmerzen und Probleme hat, werden andere Teile der menschlichen Gesellschaft mit ihm empfinden.
Aus diesem Grund ist es angemessen, anlässlich der Katastrophe, die durch den Wirbelsturm in einigen Gebieten der USA verursacht wurde, dem amerikanischen Volk und insbesondere den Hinterbliebenen unser Beileid und unser Mitgefühl auszusprechen und für die Hinterbliebenen Geduld und Wiedergutmachung und für die Verstorben die göttliche Barmherzigkeit und Vergebung zu erbitten.
Des Weiteren muss ich meiner tiefen Trauer über die blutige Katastrophe von Kazimayn, bei der viele Kinder, Frauen und Männer den Tod fanden, Ausdruck verleihen. Ich hoffe, dass Gott für die Menschen in diesem Land bald die vollkommene Herrschaft und Sicherheit schaffen wird. Solche Katastrophen haben eine wichtige und klare Botschaft für die gesamte Welt, und zwar dass vor allem die Muslime selbst Opfer von Terror und Gewalt sind. Das ist der beste Beweis dafür, dass nicht die Muslime als Akteure der Gewalt und des Terrors bezeichnet werden dürfen, weil sie selbst Opfer der Gewalt sind. Ich habe wiederholt gesagt, dass diejenigen, die im Namen des Islam andere terrorisieren und töten um ihre unerwünschten Ziele zu erreichen und sich des Namens der Muslime und des Islam bedienen, diesen Namen gestohlen haben und deshalb dieses Verhalten nicht den Muslimen zugeschrieben werden darf.
Und der Friede sei mit euch und die Gnade Gottes und Seine Segnungen.