Präambel
Der Islam entstand als eine humane Religion zwar in einem arabischen Raum, konnte sich aufgrund seines menschenorientierten Wesens nach seiner Ausweitung unter die nicht-arabischen Völker diesen gesellschaftlich anpassen, obwohl diese Völker unter anderen Kulturen und Traditionen lebten. Diese Tatsache zeigt einerseits die Vernunftorientierheit und Flexibilität des islamischen Gedankenguts, andererseits führte es dazu, dass die islamischen Vorschriften und Lehre sich in manchen Fällen mit der einheimischen Tradition und Kultur vermischten, so dass im Laufe der Zeit viele dieser kulturellen Elemente als „islamisch“ akzeptiert wurden.
Die rasche Migrationswelle der vergangenen Jahrzehnte führte zu eng werdenden Kontakten zwischen Muslimen und nicht-Muslimen, welche mit ihren eigenen kulturellen und traditionellen Orientierungen zu Ansprechpartnern der Muslime wurden. Mit dieser Entwicklung wurde die Frage immer aktueller und wichtiger, was direkt aus der islamischen Lehre entspringt, und was seinen Ursprung lediglich in Traditionen und Kulturen der muslimischen Völker hat. Die Beantwortung dieser Problematik bedarf einer islamwissenschaftlichen und fachlich-theologischen Auseinandersetzung. Erst eine solche fundierte Forschung kann in der Lage sein, neue Perspektiven zu öffnen, die miteinander vermischten Elemente auseinanderzutrennen, zu analysieren und schließlich den wahren Kern des Islam heraus zu bilden.
Selbstverständlich gibt es auch im Islam -wie bei allen anderen Religionen und Weltanschauungen- unterschiedliche Methoden und Verfahren der Auslegung und Erkenntnisgewinnung. Die Unterschiede in den Auseinandersetzungsmethoden mit dem Islam sind manchmal so gravierend, dass sie zu gänzlich entgegengesetzten Vorstellungen dieser Religion führen können. Deshalb kann man nicht eine Ansicht nur deshalb als echte und ursprüngliche islamische Auffassung begreifen, weil man diese gewöhnlich mit dem Islam in Verbindung gebracht hat. Vielmehr müssen diese verschiedenen Ansätze und Ansichten nur als unterschiedliche Auslegungsversuche und Lesarten im Islam verstanden werden. Für die Wahrheitsfindung und Beurteilung der Echtheit und Authentizität einer islamischen Ansicht müssen bestimmte Methoden herangezogen und mit deren Hilfe die betreffende Ansicht kritisch und genau geprüft werden.
Die versteinerten und dogmatischen Lesarten der islamischen Texte sind weniger von politisch-sozialen Bedingungen beeinflusst, als von oberflächlichen Methoden zur Auslegung und Erkenntnis dieser Texte. Um also die negativen und falschen Lesarten des Islam (welche Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, und religiösen Extremismus propagieren) zu widerlegen, müssen diese falschen Ansichten einer wissenschaftlich-theologischen Kritik unterzogen werden. Danach können wir mit Hilfe von vernunft- und mäßigungsorientierten Auslegungen und Lesarten die Inhalte der islamischen Texte formulieren. Diese Methode wurde in der
klassischen islamischen Schule als Rechtsfindungsprinzip „Ijtehad-Prinzip“(1) bezeichnet. Dieses Verfahren besitzt einen besonderen Stellenwert und basiert auf einer authentisch fachlich-theologischen Auseinandersetzung mit dem Islam. Daher verfügen die nach diesem Verfahren gewonnenen und formulierten religiösen Ansichten über die erforderliche theologische Glaubwürdigkeit und Legitimität. Man kann solche Ansichten als glaubwürdiges und authentisches religiöses Recht betrachten.
In der islamischen Welt gibt es eine Reihe von natürlichen und juristischen Personen, die gemäß aktuellen Erfordernissen und Bedingungen der islamischen Gesellschaften nach den Methoden des „Ijtehad“-Verfahrens mit islamwissenschaftlichen Forschungen und Untersuchungen befasst sind. Aber in Deutschland im Allgemeinen und im deutschsprachigen Raum im Besonderen fehlt es bis heute an dieser Praxis, obwohl in diesen Regionen eine große Anzahl von Muslimen leben. Wir sind der Auffassung, dass wir einer islamischen Deutung bedürfen, die auf die Bedürfnisse der hier lebenden Muslime zugeschnitten ist. Eine solche Deutung des Islam muss in der Lage sein, unter Berücksichtigung von Anforderungen und Gegebenheiten der europäischen Gesellschaft durch Heranziehung und Anwendung von authentischen und echten islamischen Quellen und Texten ein auf Vernunft und Mäßigung basierendes Bild des Islam vorzulegen. Dieser Schritt gilt als eine der wichtigsten Voraussetzungen für „das heimisch werden des Islam in Europa“.
Mit diesem Ziel und aufgrund der obigen Überlegungen wird das IFRIR gegründet. Dieser Verein arbeitet unter Aufsicht und Beteiligung eines autorisierten islamischen Gelehrten im Range eines mit selbständiger religiöser Rechtsfindungsfähigkeit ausgestatteten Ayatollah und will durch islamwissenschaftliche Forschung und Interpretation von anerkannten islamischen Quellen auf die europäischen Bedingungen und Anforderungen und die Anliegen der in Europa lebenden Muslime eingehen.

______________________________________________________________________________ (1) Ijtehad: Die Gesamtheit des Wissens und der wissenschaftlichen Methoden, die offiziell für das Verständnis und die Interpretation der islamischen Primärtexte (Koran und Sunna) als gültig anerkannt ist. Wenn jemand die Stufe des Ijtehad erreicht hat, gilt dessen Verständnis und Interpretation der islamischen Primärtexte als eine gültige und offizielle islamische Meinung (Aussage).